Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt? Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus
„Also, wenn ich ehrlich meine Meinung sagen darf: Schon wieder die Nazis? Immer und immer wieder. Das muss doch nicht sein. Es ist doch so lange her.“ [Zitat eines Taxi-Fahrers aus Neustadt aus dem Jahr 2019]. Ja, es stimmt: Wir wissen viel über den Nationalsozialismus. Keine Epoche der deutschen Geschichte ist derart intensiv beforscht worden wie die NS-Zeit. […] Und dennoch: Es gibt immer noch „weiße Flecken". Darüber, wie die totalitäre Diktatur im Alltag funktioniert hat, […] davon wissen wir immer noch wenig.1
Mit diesen Sätzen beginnt der Forschungsband, der den in der Überschrift genannten Titel trägt. Dieses multimediale Schulgeschichtsbuch möchte den Titel aufgreifen und stellt dir Quellen und Darstellungen zur Verfügung, um dich selbst mit der formulierten Frage zu beschäftigen. In dieser Einführung erfährst du, welche Bedeutung der Idee der Volksgemeinschaft in der Zeit des Nationalsozialismus zukam und wie der Begriff in diesem Schulgeschichtsbuch in Anlehnung an die Forschungsarbeit in den Geschichtswissenschaften genutzt werden soll, um die Gesellschaft im Nationalsozialismus zu untersuchen. Warum steht nun Neustadt an der Weinstraße im Mittelpunkt? Wären Berlin, München oder Nürnberg nicht eigentlich wichtiger? Ist die Beschäftigung mit Neustadt nur etwas für ältere Heimatforscher*innen? Um erste Antworten auf diese Fragen zu finden, soll auch die Bedeutung regionalgeschichtlicher Zugänge zur Geschichte des Nationalsozialismus aufgezeigt werden.
Bevor Volksgemeinschaft nun in einem ersten Schritt im Hinblick auf die Verwendung der Begrifflichkeit im Nationalsozialismus und im Anschluss als fachliches Untersuchungswerkzeug näher erläutert wird, ist es sinnvoll zunächst zu hinterfragen, was du selbst unter den beiden Wörtern des Begriffs verstehst.
Erstelle hierzu eine Mind Map ähnlich der unterstehenden Abbildung.
Die Volksgemeinschaft nahm in der Propaganda des NS-Regimes eine zentrale Rolle ein und sollte ein Zukunftsversprechen an die Menschen sein. Dabei vernetzte sie sich mit anderen Bestandteilen der NS-Ideologie, z.B. dem „Führerkult“.
Mit dem „Führerkult“ im Nationalsozialismus hast du dich eventuell schon beschäftigt. Adolf Hitler konnte sich mit Hilfe eines großen Propagandaaufwandes als aus dem "Volk" hervorgegangene und fast überirdische „Führerfigur“ darstellen. Er präsentierte sich als „Erlöser“ und „Retter“ des „Volkes“. Viele Menschen folgten dieser Deutung bereitwillig. Diesem „Führermythos“ wurde mit der Volksgemeinschaft eine zweite Erzählung an die Seite gestellt, die für zahlreiche Menschen sehr attraktiv war. Die beiden Aspekte „Führer“ und Volksgemeinschaft waren in der nationalsozialistischen Ideologie untrennbar miteinander verbunden.
Der Begriff Volksgemeinschaft wurde bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts häufig gebraucht, aber mit unterschiedlichen politischen Konzepten verknüpft. Die Weimarer Republik empfanden viele Menschen als eine Zeit der Zerstrittenheit und politischer Krisen, sodass die Hoffnung auf soziale Harmonie über Standes- und Klassengrenzen hinweg eine äußerst attraktive Zukunftsvision darstellte. Die NSDAP griff diese Idee auf und verband sie mit einer Definition von „Volk“, die „Rassenzugehörigkeit“ zur Grundvoraussetzung für eine Teilhabe an der Gemeinschaft machte.
Info-Box: „Volk" und „Rasse" in der nationalsozialistischen Ideologie
Hier findest du nähere Informationen zur Bedeutung der Volksgemeinschaft in der nationalsozialistischen Ideologie.
M2: Fotografie, Aufnahmezeitpunkt zwischen 1940 und 1945
Die Gegenüberstellung von „Volksgenossen“ und „Gemeinschaftsfremden“, von „wertvollem“ und „minderwertigem“ Leben waren das zentrale Element der Ideologie. Es diente als Grundlage für die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung, von Sinti und Roma, sogenannten „Asozialen“, (angeblich) kranken Menschen und auch von Homosexuellen. Erst über die Abgrenzung zwischen denjenigen, die dazugehören („Volksgenossen“) und denjenigen, die nicht dazugehören sollten („Gemeinschaftsfremde“), bestimmte sich die Volksgemeinschaft. Wie bei der Inklusion2 wurde auch die Exklusion3 erst durch konkrete Handlungen der vielen Menschen, nicht nur durch die NS-Führung und die NSDAP-Mitglieder hergestellt. Maßnahmen gegen Jüdinnen und Juden, gegen SPD- und KPD-Mitglieder sowie gegen Menschen, die sich der nationalsozialistischen Weltanschauung nicht beugten, wurden erst wirksam, weil es so viele gab, die aktiv mittaten, offen klatschten oder auch nur stumm dabeistanden. Wer mitmachte, bekam von zahlreichen Menschen seiner Umgebung höheres Ansehen zugesprochen und konnte letztendlich für sich selbst von der Situation profitieren. Wer sich abwandte, wurde ebenfalls zum „Gemeinschaftsfremden“.
Tipp: Nähere Informationen zu den „Anderen“ in der Volksgemeinschaft findest du im Kapitel 3.
Aufgaben
Tipp: Die Bilder in der Galerie spielen im Schulgeschichtsbuch bei verschiedenen Themen eine wichtige Rolle und werden dir dort auch in konkreten historischen Zusammenhängen begegnen. Im Medienbaustein "Mit Fotografien lernen" kannst du dich ebenfalls mit Bildern als historischen Quellen auseinandersetzen.
Der Begriff Volksgemeinschaft steht aktuell für ein Fragebündel, das Historiker*innen an die Vergangenheit richten, um die Funktionsweisen der nationalsozialistischen Gesellschaft näher zu erklären. Sie soll unter anderem Aufschluss darüber geben, wie das Ausmaß der Zustimmung zum NS-Regime zu erklären ist.
Es wird untersucht, was der Nationalsozialismus mit den Menschen machte, wie er die Gesellschaft vor Ort veränderte, die Menschen mobilisierte und Handlungen provozierte. Es wird auch gefragt, warum eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung das NS-Regime unterstützte und sich auch nicht abwandte, als das Ausmaß von Verfolgung und Vernichtung sowie die Kriegsbereitschaft deutlich wurden.
Das Forschungskonzept Volksgemeinschaft richtet den Blick darauf, dass die Entwicklungen zwischen 1933 und 1945 nicht nur von oben vorgegeben, sondern auch von unten mitgestaltet wurden. So spielt bei historischen Analysen neben der Inklusion und der Exklusion auch der Begriff der Distinktion4 eine wichtige Rolle. Distinktion beschreibt das dem Menschen innewohnende Streben danach, sich abzuheben und in der Gesellschaft besonders anerkannt zu sein. Die Idee der Volksgemeinschaft bot viele Gelegenheiten zu persönlichem Aufstieg und zur Steigerung von Anerkennung in der Mehrheitsgesellschaft. Mit diesem Appell an ein oft unbewusst vorhandenes Grundbedürfnis gelang es der NSDAP, Menschen für die eigene Sache zu mobilisieren. Sie handelten jetzt aus eigenem Antrieb heraus im Sinne des NS-Regimes. Maßnahmen zur Ausgrenzung mussten beispielsweise oft gar nicht befohlen werden, sie wurden von den Menschen vor Ort ergriffen, um die Idee der Volksgemeinschaft soziale Wirklichkeit werden zu lassen.
M3: Der Historiker Markus Raasch erklärt die Ansätze der Volksgemeinschaftsforschung im Jahr 2020
Aufgaben
Auswahl weiterführender Literatur und Weblinks
Hier findest du eine Auswahl weiterführender Literatur und Weblinks zum Forschungskonzept Volksgemeinschaft.
Info-Box: Die besondere Gauhauptstadt
Hier erfährst du, wieso Neustadt als eine besondere Gauhauptstadt bezeichnet werden kann.
Früher beschäftigte sich die Geschichtswissenschaft vor allem mit dem nationalsozialistischen Staat und den Machthabern. Auch in Fernsehdokumentationen standen Adolf Hitler, Josef Goebbels und verschiedene NSDAP-Funktionäre im Mittelpunkt. Mit der Zeit entdeckte man aber die Bedeutung der Regionen im und für das NS-Regime. Zudem war und ist Deutschland von Regionen geprägt. Die Traditionen, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Grundlagen sind von der Lage und dem Naturraum sowie von der jeweiligen Geschichte bestimmt. Erst mit diesen Zusammenhängen kann man das Forschungskonzept Volksgemeinschaft sinnvoll anwenden.
Info-Box: „Grabe, wo du stehst.“
Hier erhältst du Informationen zur Aufforderung „Grabe, wo du stehst“ und zu Geschichtswerkstätten.
M5: Der Historiker Markus Raasch erklärt 2020 Lücken in der Forschung zum Nationalsozialismus
M6: Der Historiker und Politiker Dieter Schiffmann äußert sich im Jahr 2020 zur Pfälzischen Identität und zur Geschichte der Deutschen Weinstraße
M7: Der Mainzer Zeithistoriker Michael Kißener spricht in einem Interview im Jahr 2020 über die Bedeutung der Regionalgeschichte für die NS-Forschung und für die heutige Gesellschaft
Aufgaben
Vertiefungsangebot: Im multimedialen Schulgeschichtsbuch recherchieren
Der Taxifahrer, von dem ganz am Anfang des Kapitels die Rede war, hat sich skeptisch geäußert und mit der Frage „Schon wieder die Nazis?“ die Bedeutung des Themas eher bezweifelt. Ein anderer Neustadter Bürger ordnete der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hohe Relevanz zu und sagte im Interview: „Wir müssen etwas dagegen tun, dass die jungen Leute nicht auf die blöde Idee kommen, gegen Menschen, die eine andere Hautfarbe, eine andere Religion oder eine andere Sprache haben, so negativ eingestellt zu sein.“
In den folgenden Tonspuren nehmen ganz unterschiedliche Menschen Stellung zur Bedeutung des Themas und zeigen auf, wie eng dieser Aspekt mit der Erinnerung vor Ort und dem Umgang mit dem Nationalsozialismus heute zusammenhängt. Es handelt sich um Bürger*innen, Schüler*innen, einen Lehrer aus Neustadt sowie um die Autorinnen dieses Schulgeschichtsbuches. Die Interviews wurden im Jahr 2020 von einer studentischen Arbeitsgruppe der JGU Mainz geführt.
M8: Blickwinkel auf die Erinnerung vor Ort
Volksgemeinschaft als politisches Schlagwort
M9: Der Historiker Michael Wildt äußert sich im Jahr 2017 zum Wiederaufkommen der Volksgemeinschaft als Schlagwort politischer Debatten
M10: Auszug einer Buchbesprechung des Deutschlandfunks zu einer 2019 erschienenen Veröffentlichung des Historikers Michael Wildt
Aufgaben