3.3 Judenverfolgung und -entrechtung

Propaganda gegen Jüdinnen und Juden machte die NSDAP schon lange vor 1933. Eine rassistische Judenfeindschaft bildete den Kernbestandteil ihrer politischen Botschaft. Im nationalsozialistischen Konzept Volksgemeinschaft wurde Jüdinnen und Juden die Schuld für schwere Zeiten, gesellschaftliche Zerrissenheit und wirtschaftliche Krisen zugeschrieben.

Die Ausgrenzung war offen ausgesprochener Bestandteil der Ideologie, die damit an ältere Formen der Judenfeindschaft anknüpfte. Schon vor 1933 waren diese antisemitischen Töne in Teilen der Gesellschaft lauter geworden. Auch jüdische Kinder und Jugendliche mussten sich zunehmend mit Vorurteilen, persönlichen Nachteilen und öffentlich gelebter Ausgrenzung auseinandersetzen. Mit der sogenannten „Machtergreifung“ im Jahr 1933 nahm die gesellschaftliche und politische Exklusion1 bedeutend zu und führte schließlich von der Verfolgung zu den systematischen Deportationen in die Arbeits- und Vernichtungslager. Die in Neustadt besonders ausgeprägten Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte waren nur äußerer Ausdruck einer spürbaren Veränderung der Lebenswelten. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden die Synagoge und das jüdische Altersheim von Mitgliedern der SA und SS angezündet. Bei dem Brand starben zwei Bewohnerinnen des Altersheims, Camilla Haas und Fanny Bender. 1940 schließlich wurden mindestens 23 der in Neustadt-Stadt verbliebenen Jüdinnen und Juden im Rahmen der „Bürckel-Wagner-Aktion“, die die gesamte Saarpfalz und Baden betraf, in das Internierungslager nach Gurs deportiert. Für rund die Hälfte von ihnen stellte das südfranzösische Gurs eine Zwischenstation vor Deportationen in weitere Vernichtungslager dar.

In den Schriftstücken der Archivakten alleine werden die Hintergründe und Zusammenhänge, die die Entwicklung von der Ausgrenzung bis hin zur Ermordung  möglich gemacht haben, nicht deutlich. Wenn jüdische Schüler*innen etwa die Schule verlassen mussten, trug man in ihre Akten ein „verlassen“ ein. Das war vor allem in den Jahren 1936 und 1937 der Fall. Den Schicksalen, die hinter solchen Eintragungen stecken, kann man sich nur über die Betrachtung eines breiten Quellenpanoramas nähern. 

Um zu klären, wie eine solche Zuspitzung der Entwicklung in wenigen Jahren möglich war und warum die NS-Ideologie trotzdem so viele Anhänger*innen fand, beschäftigt sich dieses Unterkapitel zunächst mit der Funktionsweise antisemitischer Propaganda, indem Feindbildkonstruktionen untersucht werden. An ausgewählten Archivquellen soll dir im Anschluss verdeutlicht werden, wie der Ausschluss jüdischer Neustadter*innen aus der Volksgemeinschaft umgesetzt wurde. 

1. Zur Funktionsweise antisemitischer Propaganda

M4: Fotografie und Kalendernotiz des Fastnachtsumzuges in Neustadt am 19. Februar 1939

Aufgaben

  1. Erläutere ausgehend von den Ausführungen des Zeithistorikers Kißener (M1) den Zusammenhang zwischen antisemitischer Propaganda und dem nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsgedanken.
  2. Arbeite unter Bezugnahme auf die Pressedarstellungen M2-M3 die Ausgestaltung antisemitischer Feindbilder in der NS-Propaganda heraus.

    Tipp: Überlege, auf welche (vermeintlichen) physischen und charakterlichen Stereotypen in den Pressedarstellungen zurückgegriffen wird und auch, inwiefern die Ab- und Ausgrenzung dargestellt wird.

  3. Die Materialien in der Galerie M4 enthalten Zeugnisse eines Fastnachtsumzuges in Neustadt aus dem Jahr 1939. Der Motivwagen stellt die brennende Synagoge dar.

    a) Beschreibe die Fotografie zunächst im Detail. Achte dabei insbesondere auf die gewählte Kostümierung, die Requisiten und die Gestaltung des Motivwagens.
    b) Kommentiere im Anschluss, wie die Aufnahme auf dich wirkt.
    c) Erläutere, welche antisemitischen Klischees in der Darstellung vermittelt werden.
    d) Antisemitische Propaganda wird im Beispiel über den Fastnachtsumzug transportiert. Diskutiere, inwiefern dieses Medium eine, bzw. keine besondere Wirkung auf die Einstellungen und Vorstellungen der Zuschauer*innen entfaltete.

2. Diskriminierung und Entrechtung jüdischer Neustadter*innen

M8: Boykottaufforderungen gegenüber jüdischen Lieferfirmen und Geschäften im März 1933

M9: Anzeigendoppelseite, veröffentlicht in der NSZ Rheinfront vom Februar 1933

M10: Ortseingangsschild, vermutlich aus den 1930er Jahren

M11: Briefverkehr aus dem Jahr 1937 über die Aufforderung des Ausschlusses jüdischer Neustadter*innen vom Schwimmbadbesuch

M12: Kennzeichnung jüdischer Geschäfte mit Klebezetteln im Jahr 1938

M14: Auswahl an Rückmeldungen jüdischer Neustadter*innen zur Annahme zusätzlicher Vornamen aus dem Jahr 1938

M15: Schreiben über die Aberkennung der deutschen Reichsangehörigkeit sowie des Vermögens jüdischer Neustadter*innen aus dem Jahr 1940

Aufgaben

  1. Fasse unter Heranziehung der Info-Box zum jüdischen Leben in Neustadt vor 1933 zusammen, wie sich der jüdische Alltag vor Ort bis 1933 gestaltete.
  2. Arbeite ausgehend von M6-M8 heraus, inwiefern sich der öffentliche Diskurs über jüdische Neustadter*innen mit der Etablierung der NS-Diktatur änderte und welche Auswirkungen dies auf den Alltag der Neustadter Jüdinnen und Juden hatte.
  3. Beurteile ausgehend von einer Materialzusammenstellung deiner Wahl (M9-M15), inwiefern die in den Quellen dargestellten antisemitischen Maßnahmen das Leben der jüdischen Gemeinde in Neustadt beeinflussten.

    Tipp: Ordne die beispielhaft präsentierten antijüdischen Maßnahmen auch in ihren historischen Kontext ein. Nutze hierzu den Zeitstrahl zu Beginn der Sektion.

  4. Diskutiere ausgehend von M16 die Erinnerung der Neustadter Zeitzeugin an die Reaktionen auf eine Nichtbeachtung antisemitischer Maßnahmen.
  5. Erörtere gemeinsam mit deinen Mitschüler*innen kritisch und mit Blick auf das vorliegende Kapitel, inwiefern Ausgrenzung, Entrechtung sowie die Vorstellung von der Volksgemeinschaft im Zusammenhang stehen bzw. sich gegenseitig beeinflussten.

    Tipp: Beziehe in die Beantwortung der Frage gezielt auch die Unterkapitel 3.1 und 3.5 mit ein.
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