3.6 Die Deportationen der Neustadter Jüdinnen und Juden

Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Maßnahmen gegen alle jene, die nach den rassistischen Vorstellungen der NS-Ideologie nicht zur Volksgemeinschaft gehören sollten, noch einmal bedeutend. Ab Oktober 1939 wurde die als „Euthanasie“ bezeichnete, massenhafte Ermordung (angeblich) unheilbar kranker und behinderter Menschen geplant und ab 1940 durchgeführt. Im Mai 1940 begannen die Deportationen der Sinti und Roma, die schließlich in Vernichtungslager weiterverschleppt wurden. Die Verschärfung der Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung hatte bereits 1938 mit der Reichspogromnacht sowie der Ausweisung von bis zu 17 000 Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Reichsgebiet begonnen. Parallel liefen Aktionen, die Jüdinnen und Juden zur Auswanderung drängen sollten, bis Anfang 1941 ein of­fi­zi­el­les Aus­wan­de­rungs­ver­bot erlassen wurde. Im Februar 1940 wurden tausende Menschen aus Wien, Prag und Stettin verschleppt. Die Deportationen von mehr als 6 500 Menschen aus Baden und der Saarpfalz am 22./23. Oktober in das Internierungslager im südfranzösischen Gurs war die nächste Eskalationsstufe hin zu den systematischen Massendeportationen in die Vernichtungslager ab 1942.

In diesem Unterkapitel kannst du dich zu den Deportationen der Neustadter Jüdinnen und Juden informieren. In einer abschließenden Sektion steht der erinnerungskulturelle Umgang mit den Deportationen vor Ort im Fokus. Vorgeschaltet ist dem Unterkapitel ein Interview mit den Historiker*innen Sabine Klapp und Roland Paul vom Institut für Pfälzische Geschichte und Volkskunde in Kaiserslautern, das sich mit einer eigenen Arbeitsstelle der Erforschung jüdischen Lebens in der Pfalz widmet.

M1: Roland Paul und Dr. Sabine Klapp vom Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde im Gespräch (2020)
00:00
Welche Aufgaben haben Sie sich für die Forschung über und die Erinnerung an die Deportation der jüdischen Bevölkerung am 22. Oktober 1940 gesetzt?
10:49
Wie gehen Sie damit um, dass es wenig Quellen gibt, welche die jüdische Perspektive zeigen?
15:05
Haben Sie im Rahmen Ihrer Forschungen für den Pfälzischen Raum auch Erkenntnisse zu deportierten Kindern und Jugendlichen gewinnen können?

Aufgaben

  1. Beschreibe ausgehend von dem Gespräch zwischen Klapp und Paul (M1) zunächst die Vorgehensweise der Historiker*innen im Institut für pfälzische Geschichte und Volkskunde bei der Erforschung der Deportationen. (Minuten 0:00-10:47)
  2. Erläutere die Strategie, mit der Paul der eingeschränkten Quellenlage aus jüdischer Perspektive begegnet. (Minuten 10:48-15:04)
  3. Fasse ausgehend von dem Gespräch (M1) die anhand von Zeitzeug*innengesprächen und Archivrecherchen gewonnenen Erkenntnisse zu Schicksalen jüdischer Kinder aus der Pfalz und ihren Eltern zusammen. (ab Minute 15:04)
  4. Beurteile ausgehend von M1 die Bedeutung der im Gespräch beschriebenen Forschungsarbeit für die Geschichtsschreibung und für die heutige Erinnerungskultur. 

1. Die sogenannte „Bürckel-Wagner-Aktion" 

Die „Aktion" vom 22./23. Oktober 1940 ist in ihrer Namensgebung eng mit den beiden Gauleitern im Südwesten des Deutschen Reiches verbunden: Mit der Eroberung französischer Gebiete erhielten Josef Bürckel (Gauleiter der Saarpfalz) und Robert Wagner (Gauleiter Badens) die Verwaltungshoheit über die an ihre Gaue angrenzenden Territorien Lothringen und Elsass. Diese Gebiete sollten entgegen der Bestimmungen des Waffenstillstandes von Compiègne (1940) an die Gaue Baden und Saarpfalz angegliedert werden. Das Konzept der Volksgemeinschaft wurde auf diese Gebiete übertragen. Alle, die nicht den nationalsozialistischen Rassemerkmalen entsprachen oder sich nicht der Weltanschauung des Nationalsozialismus beugten, wurden verfolgt und verschleppt. Dazu gehörten viele Jüdinnen und Juden, die nach Gurs und in benachbarte Lager im unbesetzten Teil Frankreichs im Süden verbracht wurden.

Die Gauleiter nutzen diese Entwicklung, um mit der „Bürckel-Wagner-Aktion" entsprechende Maßnahmen auch in der Saarpfalz und in Baden durchzuführen. Die Jüdinnen und Juden aus Neustadt und Umgebung wurden unter anderem von Gestapo-Beamten am 22. Oktober 1940 festgesetzt und abtransportiert. Über die Organisation der Verschleppung liegen nur wenige Quellen vor, obwohl mehrere Dienststellen, vor allem Polizei und Gestapo, informiert gewesen sein müssen. Den betroffenen Menschen wurde erst kurz vorher ein von Gauleiter Josef Bürckel unterschriebener „Ausweisbefehl" zugestellt. Die Deportation zog sich über den Tag hin. Sie lief nicht im Verborgenen ab. Mindestens 825 Menschen aus der Pfalz, unter ihnen auch Säuglinge und ältere Menschen, wurden mit Bussen an die Bahnhöfe gebracht und dann in Güterwagen eingesperrt. Am Ende mussten sie noch auf Lastwagen umsteigen. Der von französischen Kollaborateuren1 des Vichy-Regimes2 unterstützte Transport über Metz, Nancy und Chalon-sur-Saône bis nach Gurs dauerte mehrere Tage. 

Vor Ort, in der Pfalz und in Baden wurde im Zuge der Deportationen nicht nur das Vermögen der Verschleppten beschlagnahmt, sondern auch ihre Wohnungen und Häuser sowie der zurückgebliebene Hausrat versteigert. Kaum jemand protestierte gegen die „Bürckel-Wagner-Aktion". Viele beteiligten sich an den Versteigerungen und profitierten so von der Deportation. Auch für Neustadt sind noch heute Listen erhalten, die die Veräußerung der Immobilien jüdischer Familien nach 1940 belegen.

Die Bedingungen für die verschleppten Menschen waren katastrophal und viele verstarben bereits unterwegs oder kurz nach ihrer Ankunft in Gurs am 25. Oktober 1940. Andere wurden im Anschluss noch in weitere Nebenlager verbracht, etwa nach Récébédou, Rivesaltes, Pau oder Les Milles. Nur wenige konnten sich retten. Die NSDAP deportierte ab 1942 im Zuge der sogenannten „Endlösung“ auch die Jüdinnen und Juden aus Gurs nach Auschwitz-Birkenau und in andere Vernichtungslager, um sie dort zu ermorden.

M2: Der Historiker Roland Paul schildert in einem Interview im Jahr 2020 die Situation in Neustadt am 22. Oktober 1940

M3: Bericht zum Verlauf der Deportationen in Bad Dürkheim vom 22. Oktober 1940

M4: Merkblatt für an der Deportation beteiligte Beamte

M5: Symbolbild eines anlässlich der Deportationen Ende Oktober 1940 gepackten Koffers

M6: Die (Haupt-)Deportationsroute Pfälzischer Jüdinnen und Juden

Die (Haupt-)Deportationsroute Pfälzischer Jüdinnen und Juden

Aufgaben

  1. Arbeite ausgehend von M3 den von der Polizei in Bad Dürkheim gegenüber der Gestapo-Stelle in Neustadt geschilderten Verlauf der „Bürckel-Wagner-Aktion“ im Oktober 1940 heraus.
  2. Fasse aus M4 die Anweisungen für die bei den Deportationen eingesetzten Beamten zusammen.
  3. Überlege ausgehend von M4, welche Dinge du nach der Anweisung des Oktobers 1940 in einem Koffer mitgenommen hättest und fertige ein Bild des Inhalts deines „gepackten Koffers“ an. Beschreibe auch, was du mitnehmen würdest, aber (nach M4) nicht könntest.

    Tipp: Das Bild in M5 zeigt die in M4 aufgeführten, „nach Möglichkeit mitzunehmenden Dinge“, die du bis zur Grenze von 30kg ergänzen kannst.

  4. Die Karte M6 zeigt die Deportationsrouten der Pfälzischen Jüdinnen und Juden in vereinfachter Form. Überlege ausgehend von dem Darstellungstext, welche Stationen sich auf der Karte noch ergänzen lassen.

    Tipp: Über einen Online-Kartendienst kannst du die Stationen auch direkt in eine (aktuelle) Karte eintragen.

M7: Der Umgang mit dem Eigentum deportierter Jüdinnen und Juden – Das Beispiel der 1940 deportierten Neustadterin Henriette Löb

M8: Der Umgang mit dem Eigentum deportierter Jüdinnen und JudenDas Beispiel des 1940 aus Mannheim deportierten Neustadter Ehepaars Strauß

Das 1939 erstellte Gutachten über das Haus der Familie Strauß in der Villenstraße Nr. 8 ist im Stadtarchiv Neustadt a.d.W. erhalten.

M9: Vermögensbeschlagnahmungen deportierter Jüdinnen und Juden in Neustadt

Aufgaben

  1. In der Galerie M7 findest du Auszüge aus der Personalakte der im Zuge der „Bürckel-Wagner-Aktion“ 1940 aus Neustadt deportierten Postbeamtin Henriette Löb. Erläutere ausgehend von den Materialien den Umgang mit dem Vermögen Löbs nach ihrer Deportation.

    Tipp: Achte insbesondere auch auf die sprachliche Umschreibung der Deportation Löbs in den Quellen vor und nach 1945. Weitere Informationen zum Schicksal Henriette Löbs findest du im Unterkapitel 3.4.

  2. Erläutere ausgehend von M8 den Umgang mit dem Anwesen des Ehepaars Strauß nach ihrer Flucht nach Mannheim im Jahr 1939.

    Tipp: Weitere Informationen zum Schicksal des Ehepaars Strauß, die 1940 von Mannheim aus nach Gurs deportiert wurden, findest du im Unterkapitel 3.4.

  3. a) Stelle die beiden Quellen der Galerie M9 einander gegenüber. 
    b) Erläutere mögliche Gründe für die Anfrage der Stadt Frankenthal bei der Stadt Neustadt im Jahr 1947.
    c) Beurteile ausgehend von M8 und M9 den Zusammenhang zwischen dem Volksgemeinschaftsgedanken und den Deportationen der Neustadter Jüdinnen und Juden.

  4. Nimm Stellung zur sprachlichen Darstellung der Deportationen in den Verwaltungsdokumenten in M7, M8 und M9 (z.B. „Evakuierung“).
  5. Setze dich ausgehend von M10 mit der Rolle der Neustadter Bevölkerung im Kontext der „Bürckel-Wagner-Aktion“ auseinander.

2. Gurs in Aquarellen, Zeichnungen und Objekten

Zum Lageralltag im Internierungslager im südfranzösischen Gurs sind von dort internierten Neustadter*innen kaum Quellen erhalten. Insgesamt waren in Gurs im Jahr 1941 bis zu 12 000 Menschen interniert, unter ihnen auch rund 900 Kinder. Der Lageralltag war geprägt von Lebensmittelknappheit, einer hohen Sterberate und dem Leben auf sehr engem Raum. Um den vorherrschenden Bedingungen (gedanklich) zu entfliehen, betätigten sich die in Gurs Internierten häufig künstlerisch. So wurde etwa eine Bibliothek gegründet, es fanden Konzerte oder auch Theateraufführungen statt. Zahlreiche Werke der internierten Künstler*innen gingen während des Krieges in den Besitz Elsbeth Kassers über. Kasser arbeitete in Gurs als Krankenschwester. Heute auch als „Engel von Gurs“ bezeichnet, erhielt die Schweizerin während ihrer Tätigkeit als Krankenschwester etwa von den internierten Kindern immer wieder Geschenke.

Die erhaltenen Aquarelle, Skizzen und Gegenstände sind heute durch die ETH Zürich in einer digitalisierten Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und werden regelmäßig auch in Ausstellungen gezeigt. Ein Jahr nach Kassers Tod im Jahr 1993 wurden die Aquarelle und Skizzen der in Gurs internierten Künstler*innen auch im Hambacher Schloss gezeigt. In dieser Sektion findest du eine Auswahl der Sammlung Elsbeth Kassers, die dir eine Vorstellung des im Internierungslager Gurs herrschenden Alltags ermöglichen soll.

M11: Aquarelle des in Gurs internierten Künstlers Julius C. Turner aus den Jahren 1941-43, erhalten in der Kollektion Elsbeth Kasser im Archiv für Zeitgeschichte (ETH Zürich).

M12: Zeichnungen des in Gurs internierten Künstlers Karl Borg aus den Jahren 1940, erhalten in der Kollektion Elsbeth Kasser im Archiv für Zeitgeschichte (ETH Zürich).

M13: Skizzen des in Gurs internierten Künstlers Max Lingner aus dem Jahren 1941, erhalten in der Kollektion Elsbeth Kasser im Archiv für Zeitgeschichte (ETH Zürich).

M14: Von internierten Kindern in Gurs angefertigte Objekte

Aufgaben

  1. Beschreibe ausgehend von einer Galerie (M11-M13) deiner Wahl den in den Aquarellen und Skizzen dargestellten Lageralltag im Internierungslager in Gurs.
  2. Erläutere ausgehend von M14, welche historischen Erkenntnisse sich aus den Objekten der in Gurs internierten Kinder über den Alltag im Lager gewinnen lassen.
  3. Überlege, warum Aquarelle, Skizzen und Objekte als Quellengattungen für die Geschichte des Holocaust von großer Bedeutung sind.

3. 80 Jahre danach. Das Gedenken an die Deportationen nach Gurs im Jahr 2020

2020 jähren sich die Oktoberdeportationen nach Gurs zum 80. Mal. Anlässlich dieses Gedenkjahres finden in Neustadt und der ganzen Pfalz zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt. So fand am 22. Oktober 2020 in Neustadt etwa am Hauptbahnhof eine von der Stadt Neustadt und der Gedenkstätte für NS-Opfer organisierte Kranzniederlegung statt. In einer Abendveranstaltung in der Martin-Luther-Kirche wurde (unter anderem) mit einem Vortrag des Historikers Roland Paul sowie dem unter Beteiligung einer Zeitzeugin, der Gedenkstätte für NS-Opfer Neustadt sowie Schüler*innen des Kurfürst-Ruprecht-Gymnasiums von Martin Mannweiler gedrehten Kurzfilms „1319 km – Gurs – gestern und heute“ an die deportierten Menschen aus Neustadt an der Weinstraße, Geinsheim, Lachen und Mußbach gedacht. Die Gedenktätigkeiten des Jahres 2020 reihen sich in die regen erinnerungskulturellen Aktivitäten Neustadts der letzten Jahrzehnte ein und fallen zugleich in eine Zeit, in der antisemitische Straftaten und politischer Extremismus europaweit zunehmen.

Anbei findest du den Flyer des Bezirksverbands Pfalz „80 Jahre Deportation der Pfälzischen und badischen Juden nach Gurs. Gedenkveranstaltungen in der Pfalz", der die geplanten Veranstaltungen für das Jahr 2020 und 2021 bereithält.

DOWNLOAD

M15: Öffentliches Gedenken an die Deportationen nach Gurs

M16: Kurzfilm "1319 km - Gurs - gestern und heute" des Filmemachers Martin Mannweiler aus dem Jahr 2020.

Den mit Unterstützung der Gedenkstätte für NS-Opfer Neustadt, dem Bezirksverband Pfalz und der Evangelischen Landeskirche finanzierte Kurzfilm Martin Mannweilers findest du unter folgendem Link

Aufgaben

  1. Beschreibe ausgehend von M15, in welch vielfältigen Formen der Deportationen der Jüdinnen und Juden in Neustadt gedacht wird.
  2. Betrachte den Kurzfilm „1319 km – Gurs – gestern und heute“ Martin Mannweilers (M16).

    a) Arbeite zunächst die im Film dargestellten, am Gurs-Gedenken im Jahr 2020 beteiligten Akteure heraus.
    b) Beurteile anschließend die über die filmischen Mittel erzeugte Atmosphäre des Kurzfilms.

  3. Gedenkarbeit in filmischer Form kann auch über Serien stattfinden. Serien transportieren dabei stets bestimmte Deutungen der Vergangenheit , die es als Zuschauer*in zu hinterfragen gilt. Stell dir vor, in Neustadt soll eine Serie zur Situation der Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus produziert werden. Entwickle ein Serienkonzept, in dem du folgende Punkte beachtest:
  • Entscheide dich, an welche Zielgruppe sich die Serie richten soll.
  • Entscheide, welche Handlungsstränge du in der Serie beleuchten möchtest und inwiefern sich diese in den historischen Kontext der Zeit einordnen lassen.
  • Überlege, welche Hauptfiguren die Handlung bestimmen. Über kurze biografische Einblicke kannst du Auskunft zu Motiven und Zielen der Protagonist*innen bieten.
  • Gib der entworfenen Serie einen Titel.
  • Gestalte ein Cover, mit dem für die Serie geworben werden könnte.
  • Fasse in einem knappen Fazit zusammen, welches Geschichtsbild du mit deiner Serie vermitteln willst.
  1. Nimm ausgehend von M17 Stellung zur Bedeutung des Gedenkens an die Deportationen der Neustadter Jüdinnen und Juden heute.
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