2.3 Die Kirchen im Nationalsozialismus - Kooperation oder Konfrontation?

Im Juli des Jahres 1933 gehörten 94 Prozent der Bevölkerung der Stadt Neustadt der katholischen oder protestantischen Kirche an. Hiervon waren 57 Prozent protestantischer, 37 Prozent katholischer Konfession1. Die Pfarrei St. Maria war bis 1941 die einzige katholische Pfarrei der Stadt. Weitere Wirkungsorte der katholischen Kirche waren die 1933 feierlich eingeweihte Winzinger St. Josephskirche und das Herz-Jesu-Kloster. Die Stiftskirche wurde – wie auch heute noch – von beiden Konfessionen genutzt. Darüber hinaus war die Alte Winzinger Kirche ein Ort der protestantischen Glaubensgemeinschaft.

Das Verhältnis zwischen den zwei großen Konfessionen und dem NS-Staat hat die Forschung viel beschäftigt und zu vielen Kontroversen geführt. Stand vor allem die Kooperation oder die Konfrontation im Vordergrund? Der erste Teil dieses Unterkapitels beleuchtet die Zeit kurz nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“. Im zweiten Teil wird das Verhältnis der protestantischen Kirche zum Nationalsozialismus beispielhaft anhand eines Konfliktes veranschaulicht, der sich im Jahr 1934 zwischen den drei evangelischen Pfarrern der Stadt Neustadt entwickelte. Der letzte Abschnitt beleuchtet das Verhältnis zwischen der katholischen Kirche in Neustadt und dem NS-Regime. Mithilfe der hier präsentierten Aufgabenstellungen kannst du am Ende deine eigenen Antworten auf die Frage „Kooperation oder Konfrontation?“ formulieren.

Auch heute sind die katholische und protestantische Kirche weiterhin die größten Glaubensgemeinschaften in Deutschland. Im Jahr 2019 gehörten 27 Prozent der deutschen Bevölkerung der katholischen und 25 Prozent der evangelischen Kirche an. Ungefähr 38 Prozent der Menschen fühlen sich keiner Religion zugehörig. Die restlichen 10 Prozent verteilen sich auf weitere Religionsgemeinschaften. Beantworte vor der Bearbeitung dieses Kapitels die Impulsfrage, aus welchen Gründen die Beschäftigung mit der Geschichte der Kirchen im Nationalsozialismus heutzutage sinnvoll sein könnte. Im Anschluss kannst du dir im Podcast mit dem Kirchenhistoriker Thomas Fandel anhören, welche Antwort dieser auf die Frage gibt.

Impulsfrage

Warum könnte die Beschäftigung mit den Kirchen zur Zeit des Nationalsozialismus heute noch wichtig sein?

Der Historiker Thomas Fandel beschreibt im Autoreninterview des Podcasts „'Volksgemeinschaft' im Fokus“ seine Arbeit zu der katholischen Kirche in Neustadt während der NS-Zeit.
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Wer sind Sie und welchen Aufsatz haben Sie geschrieben?
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Was finden Sie an Ihrem Thema spannend?
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Was halten Sie für schwierig oder wo sehen Sie Herausforderungen?
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Warum ist Ihr Thema bis heute noch relevant?

1. 1933/34 – Anfängliche Kooperation?

Nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ im Jahr 1933 wurde das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen neu verhandelt. Auf katholischer Seite hatten sich die Bischöfe vor 1933 von den nationalsozialistischen Lehren klar abgegrenzt. Bei seinem Wahlkampf-Besuch in Neustadt im Februar 1933 gab Prälat2 Johann Leicht, Führer der Reichstagsfraktion der katholischen Bayerischen Zentrumspartei, den weltanschaulichen Vorbehalten deutlichen Ausdruck, indem er ein „Reich der Diktatur“ bei einem nationalsozialistischen Sieg in den bevorstehenden Wahlen im März heraufbeschwor (vgl. Podcast „Volksgemeinschaft im Fokus" M1).

Im Gegensatz dazu bestand innerhalb der protestantischen Kirchenführung eine neutrale bis befürwortende Haltung gegenüber den neuen nationalsozialistischen Machthabern. Die national-konservative3 Ausrichtung des Protestantismus, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, war in Neustadt besonders ausgeprägt. Dies lag einerseits an der Nähe zum „Erbfeind“ Frankreich, dessen Besatzungszeit erst wenige Jahre zuvor geendet hatte. Andererseits lehnten viele Protestant*innen die bayerische Regierung wegen ihrer (vermeintlichen) Nähe zur katholischen Kirche ab. (Siehe hierzu auch Unterkapitel 1.1) Die Mehrheit innerhalb der protestantischen Kirchenführung hoffte auf einen Brückenschlag zum neuen Regime zum Zwecke einer engeren Bindung der Bevölkerung an die Kirche.

Die nationalsozialistischen Machthaber wiederum schlugen aus taktischen Gründen vorerst einen kirchenfreundlichen Kurs ein (vgl. Info-Box „Positives Christentum“), was sich auch in dem Verhalten des Gauleiters Josef Bürckel widerspiegelte. Voraussetzung war, dass sich die christlichen Kirchen nicht in die politischen Angelegenheiten einmischten.

M3: Auszug aus dem Artikel „Eine denkwürdige Stadtratssitzung in Neustadt an der Haardt“ aus dem Stadt- und Dorfanzeiger vom 28. April 1933

Auszug aus dem Artikel „Eine denkwürdige Stadtratssitzung in Neustadt an der Haardt“ aus dem „Stadt- und Dorfanzeiger“ vom 28. April 1933

Aufgaben

  1. Skizziere ausgehend von M1 das ambivalente Verhältnis zwischen der katholischen Kirche und dem Nationalsozialismus im Jahr 1933.
  2. Ordne M2 unter Rückgriff auf M1 und die Info-Box „Positives Christentum“ in den historischen Kontext ein.
  3. Arbeite aus M3 heraus, wie das Verhältnis der beiden christlichen Konfessionen zum nationalsozialistischen Regime dargestellt wird.
  4. Beurteile ausgehend vom Einführungstext und M1 die Darstellung des Verhältnisses zwischen NSDAP und Kirche sowie die Darstellung der Haltung der Kirchenvertreter im Zeitungsbeitrag in M3.
M4: Schreiben des Bezirksamts Landau an das Bürgermeisteramt in Diedesfeld zur Vereinstätigkeit der Deutschen Jugendkraft (Landau, 18. Juli 1933) (aus: Stadtarchiv Neustadt a.d.W., OT Diedesfeld 205).

Aufgaben

  1. Skizziere ausgehend von M4 und M5 beispielhaft die Entwicklung der katholischen und evangelischen Jugendarbeit ab 1933.
  2. Erläutere die in M4 genannten Gründe für die Einschränkungen der kirchlichen Jugendarbeit ab 1933.

    Tipp: Nutze hierfür auch die Informationen aus den Info-Boxen „Deutsche Jugendkraft“ (DJK) und „Eingliederung der evangelischen Jugendverbände“.

  3. Stelle dir vor, die zwei Kirchen sollen in der heutigen Zeit vor einem (fiktiven) Gericht angeklagt werden. Der Vorwurf lautet, sie beziehungsweise ihre Vertreter hätten sich im Jahr 1933 schnell und ohne Widerstände in das NS-Regime eingegliedert.

    a) Schreibe entweder eine Anklage- oder eine Verteidigungsschrift für diesen Prozess.

    Tipp: Die genaue Perspektive kannst du dabei selbst wählen. Mache sie über deine Ausführungen deutlich.


    b) Stellt in eurer Klasse den Gerichtsprozess nach, indem verschiedene Anklage- und Verteidigungsschriften vorgetragen werden.
    c) Diskutiert im Anschluss, ob ihr die Kirchen beziehungsweise ihre Vertreter freigesprochen oder verurteilt hättet und begründet euer Urteil, indem ihr auf die zeitgenössischen Kontexte, zum Beispiel auch auf die  Bedeutung der Volksgemeinschafts-Ideologie, eingeht.

    Tipp: Belegt eure Aussagen mit möglichst konkreten historischen Beispielen.

2. „Protestanten ohne Protest"12? Das Beispiel des Pfarrers Wilhelm Siebert

Das Dienstverfahren gegen Pfarrer Wilhelm Siebert im Jahr 1934 als Spiegel innerkirchlicher Konflikte in der protestantischen Kirche

Im Jahr 1934 entwickelte sich ein Konflikt zwischen den drei evangelischen Pfarrern Neustadts. Ausgangspunkt für den Konflikt war eine Predigt, die Pfarrer Wilhelm Siebert am 7. Januar 1934 in der Stiftskirche hielt. Eine Gruppe SA-Leute wohnte mit ihrem Sturmbannführer12 Otto Jordan dem Gottesdienst bei. Im Anschluss an den Gottesdienst tauschten sich einige SA-Männer mit den zwei anderen evangelischen Pfarrern, Philipp Schmidt und Adam Jung, aus und brachten ihren Unmut über die Missachtung durch Pfarrer Siebert zum Ausdruck. Sie hätten eine persönliche Begrüßung erwartet. Pfarrer Wilhelm Siebert, der die Pfarrstelle 1 besetzte, war im Gegensatz zu seinen Amtskollegen, Adam Jung und Philipp Schmidt, nicht Mitglied der NSDAP. Zudem bezog Siebert deutlich Stellung gegen die Bewegung der Deutschen Christen, zu der auch seine zwei Kollegen Adam Jung und Philipp Schmidt zählten.

Jung beschwerte sich daraufhin auf offiziellem Wege bei dem Sturmbannführer Otto Jordan über das Geschehen. Da Siebert kein Mitglied der NSDAP war, nahm sich der Landeskirchenrat der Sache an und leitete ein kirchenrechtliches Verfahren gegen Wilhelm Siebert ein.

Tipp: Ausführliche Informationen zur Situation der Pfälzischen Landeskirche während der Zeit des Nationalsozialismus findest du in dem dazugehörigen Glossareintrag.

Aufgaben

  1. Informiere dich über die "Deutschen Christen" und die "Pfälzische Pfarrbruderschaft" anhand der jeweiligen Info-Boxen.
  2. Fasse ausgehend von dem Einführungstext, M6 und M11 die Vorgänge um den Fall "Pfarrer Siebert" zusammen.
  3. Wähle eine Quelle aus M7-M10. Erläutere, welche Position der Verfasser zu der Predigt (M6) und der Person Wilhelm Sieberts bezieht.
  4. Erkläre das Ergebnis der Auseinandersetzung (M11) unter Zuhilfenahme deines Wissens aus den Info-Boxen.
  5. 2016 erschien eine wissenschaftliche Publikation zur Geschichte der evangelischen Kirche der Pfalz im Nationalsozialismus mit dem Titel „Protestanten ohne Protest“. Diskutiere ausgehend von dem Fall des Neustadter Pfarrers Siebert (M6-M11), den Thesen des Historikers Müller (M12) und den Info-Boxen „Pfälzische Pfarrbruderschaft“ und „Deutsche Christen“, inwiefern der Titel „Protestanten ohne Protest“ auch für Neustadt gelten kann.

3. Die katholische Kirche: „So unterschrieb ich denn.“ (Pfarrer Jakob Martin, 1933)

M14: Statistische Darstellung zu nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen gegen Pfälzische Geistliche

Zeitliche Verteilung der Verfolgungsmaßnahmen gegen protestantische und katholische Pfarrer in der Pfalz mit Beispielen von katholischen Pfarrern aus Neustadt und Umgebung. Klicke auf die blauen Punkte, um die verschiedenen Verfolgungsmaßnahmen gegen die katholischen Pfarrer aus der Pfalz zu erkunden.

Aufgaben

  1. Fasse ausgehend von der Analyse des Historikers Fandel (M13) zusammen, inwiefern Neustadts Status als „Gauhauptstadt“ Einfluss auf das protestantische und katholische Gemeindeleben hatte.
  2. Erläutere ausgehend von M14, welche historischen Erkenntnisse du aus der statistischen Darstellung gewinnen kannst und welche nicht.
  3. Der Historiker Fandel deutet in dem Podcast „Volksgemeinschaft im Fokus“ das non-konforme Verhalten Neustadter Pfarrer folgendermaßen: „Oppositionelles Verhalten bedeutete vor allem ein Festhalten an der eigenen katholischen Tradition und damit eine Ablehnung der von den Nationalsozialisten beabsichtigten ideologischen 'Gleichschaltung' der Gesellschaft.“ Überprüfe die Aussage des Historikers anhand der Gründe für die Verfolgungsmaßnahmen gegenüber drei katholischen Geistlichen aus M14.

Aufgaben

  1. Arbeite aus M15 die Bedingungen für die Entlassung Pfarrer Jakob Martins nach seiner „Inschutzhaftnahme“ 1933 heraus.

    Tipp: Ausführliche Informationen zu der gewaltsamen „Inschutzhaftnahme“ des Königsbacher Pfarrers Martin findest du im Unterkapitel 1.5.

  2. Erkläre, inwiefern sich der Satz "So unterschrieb ich denn." von Pfarrer Martin als Überschrift für eine kontroverse32 Kapiteleinheit zur Katholischen Kirche im Nationalsozialismus eignen könnte.
  3. Diskutiere vor dem Hintergrund von M15: „Die katholische Kirche und der Nationalsozialismus – Kooperation oder Konfrontation?“.
  4. Beurteile, ob und inwiefern die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kirchen während der Zeit des Nationalsozialismus heute noch wichtig ist.
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