Die Historikerin Clara-Louise Noffke liest einen 1994 in deutscher Übersetzung erschienenen Zeitzeugenbericht zur Reichspogromnacht von Jack Heinz Honig. Der zum Zeitpunkt der Pogromnacht 16-jährige Honig arbeitete damals als Lehrling im Hause des Matzenbäckers Richard Mayer. Die deutsche Übersetzung des Berichts erschien 1994 im Evangelischen Kirchenboten.
Warum wohl steht ein solches Video, das eine der Autorinnen des Schulgeschichtsbuches im Stadtarchiv Neustadt a.d.W. beim Quellenstudium zeigt, zu Beginn dieses Unterkapitels? Warum wohl haben wir einen Zeitzeugenbericht der Ereignisse eingesprochen und diesen zudem mit Musik unterlegt? Wir möchten euch zeigen, dass auch uns die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Zeugnissen zur Judenverfolgung und -vernichtung bewegt hat. Als Historiker*in steht man fortwährend vor der Aufgabe, die notwendige, wissenschaftliche Distanz zu den betrachteten Geschehnissen aufzubauen und zugleich einen möglichst differenzierten Blick zu bewahren. Gelingen kann dabei stets nur die Rekonstruktion von Perspektiven. Behalte dies im Hinterkopf, wenn du in diesem Unterkapitel die Historiker*innentexte, Presseartikel und Zeitzeug*innenberichte zu den Geschehnissen der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 untersuchst.
Um die Ereignisse der Reichspogromnacht in Neustadt historisch-kritisch zu betrachten ist eine Auseinandersetzung mit vielfältigem Quellenmaterial unerlässlich. Die im folgenden zitierten Auszüge aus Arbeiten der Historikerin Laura Leydecker stützen sich daher sowohl auf Presseberichte und Aktenmaterial aus dem Stadtarchiv Neustadt a.d.W., auf Zeitzeug*innenaussagen, aber auch auf Prozessakten aus dem Landesarchiv in Speyer. Von 1949 bis 1969 fand am Landesgericht in Frankenthal der sogenannte „Synagogenprozess" statt, in dem eine juristische Aufarbeitung der Geschehnisse angestrebt wurde. Die Zeug*innen- und Täteraussagen, die Anklage- und Urteilsschriften sind daher zur Rekonstruktion der Ereignisse gleichermaßen beachtet worden. In den Auszügen der Arbeit Laura Leydeckers sind wörtlich übernommene Passagen des Quellenmaterials stets kursiv gesetzt sind, damit du sie von den Ausführungen der Historikerin unterscheiden kannst. Zunächst beschreibt Laura Leydecker selbst die Entstehung ihrer Arbeit im Podcast.
Orte, Beteiligte und Verlauf der Geschehnisse
Info-Box: Die „Reichspogromnacht"
Hier findest du nähere Informationen zur Begrifflichkeit der „Reichspogromnacht“.
Info-Box: Der 9. November in der nationalsozialistischen Erinnerungskultur
Hier findest du nähere Informationen zur nationalsozialistischen Erinnerungskultur an den 9. November 1923.
M1: Die Historikerin Laura Leydecker rekonstruiert die Ereignisse der Reichspogromnacht in einer 2020 erschienenen Veröffentlichung
Info-Box: Die Synagoge in der Ludwigstraße
Hier findest du nähere Informationen zur Synagoge in der Ludwigstraße.
M2: Das jüdische Altersheim in Neustadt vor und nach der Reichspogromnacht 1938
Über das Anklicken der Items kannst du das 1912 erbaute und 1938 zerstörte jüdische Altersheim in Neustadt erkunden. Die im Stadtarchiv Neustadt a.d.W. erhaltenen Bilder des Altersheims vor der Reichspogromnacht zeugen von der Größe des Baus, in dem zeitweise bis zu 130 Bewohner*innen untergebracht waren.
M3: Ausschnitt eines Zeitungsartikels aus dem Jüdischen Gemeindeblatt der Rheinpfalz vom 1. November 1937
Aufgaben
Reaktionen in der Presse
M4: Die Historikerin Laura Leydecker rekonstruiert die Reaktionen der lokalen Presse nach der Reichspogromnacht in einer 2020 erschienenen Veröffentlichung
Aufgaben
Reaktionen in der Bevölkerung - Opfer, Täter*innen, Zuschauer*innen
M7: Die Historikerin Laura Leydecker rekonstruiert die Beteiligung der Neustadter Bevölkerung an der Reichspogromnacht in einer 2020 erschienenen Veröffentlichung
Aufgaben
Die Geschehnisse der Reichspogromnacht blieben in der Erinnerung der Neustadter Bevölkerung über Jahre hinweg präsent. Im Folgenden findest du eine Zusammenstellung von (teilweise nachgesprochenen) Zeitzeug*innenberichten mit einem zeitlichen Abstand von jeweils rund vier Jahrzehnten, die dir anhand von verschiedenen Ausschnitten einen Einblick in die Verschiedenheit der Erinnerungen ermöglicht. Beachte im Folgenden die biografischen Hintergründe der Zeitzeug*innen sowie die jeweiligen Entstehungskontexte ihrer Berichte.
I. Vertonte Zeitzeug*innenberichte der 1930er/1940er Jahre
Die Zeitzeug*innenberichte der Jahre 1938, 1947 und 1949 liegen in schriftlicher Form vor und wurden für das multimediale Schulgeschichtsbuch nachträglich vertont. Zur Vertonung wurden die Berichte gekürzt und einzelne Passagen getilgt.
Walther Rudolph Baer (*1886 in Neustadt)
Auszug eines nachträglich vertonten Berichts des Wehrführers der Feuerwehr Neustadt in einem am 14. November 1938 verfassten Bericht zu den Ereignissen der Pogromnacht.
Sara Lehmann (*1891 in Speyer)
Auszug eines nachträglich vertonten Briefes von Sara Lehmann, in dem sie 1947 über ihre Erlebnisse am Tag nach der Reichspogromnacht in Neustadt berichtet
Karl Ludwig Schlee (*1902 in Eisenberg/Pfalz)
Auszug eines nachträglich vertonten Berichts Karl Ludwig Schlees aus dem Jahr 1949, in dem er französischen Behörden seine Sicht der Reichspogromnacht darlegt.
II. Zeitzeug*innen berichten im Jahr 1984
Die Zeitzeug*innengespräche aus dem Jahr 1984 wurden von Karl Fücks geführt und aufgezeichnet. Für das Schulgeschichtsbuch wurden bestimmte Sequenzen ausgewählt.
Willi Wessel (*1896 in Bremen)
Ausschnitt eines 1984 von Karl Fücks geführten Zeitzeug*innengesprächs.
Emilie Karl (*1909 in Neustadt)
Ausschnitt eines 1984 von Karl Fücks geführten Zeitzeug*innengesprächs.
III. Zeitzeug*innen berichten im Jahr 2018
Die Zeitzeug*innengespräche von Heinz Seewald, Erika Schorr und Marion Rößler wurden 2018 von der Historikerin Kathrin Kiefer in Neustadt geführt und aufgezeichnet. Die Namen der Zeitzeug*innen wurden pseudonymisiert11.
Erika Schorr (*1932 in Neustadt)
Ausschnitt eines 2018 von Kathrin Kiefer geführten Zeitzeug*innengesprächs.
Heinz Seewald (*1927 in Neustadt)
Ausschnitt eines 2018 von Kathrin Kiefer geführten Zeitzeug*innengesprächs.
Marion Rößler (*1930 in Neustadt)
Ausschnitt eines 2018 von Kathrin Kiefer geführten Zeitzeug*innengesprächs.
Aufgaben
Ob in Gottesdiensten, Schweigemärschen, Theaterstücken oder öffentlichen Gedenkveranstaltungen – die Neustadter Erinnerungskultur an die Reichspogromnacht ist seit knapp 30 Jahren ausgesprochen rege. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sollte es jedoch zunächst noch dauern, bis auch eine öffentliche Aufarbeitung der Geschehnisse angestoßen wurde. Der 50. Jahrestag der Reichspogromnacht, die aus diesem Anlass 1988 in den Räumen des Stadtarchivs eröffnete Ausstellung mit dem Titel „Vor 50 Jahren – Neustadt unter dem Nationalsozialismus“ sowie die zeitgleiche Enthüllung des Gedenksteins zur Erinnerung an die Synagoge in der Ludwigstraße trugen maßgeblich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen bei.
In der Satzung des Fördervereins der 2013 gegründeten Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt wird als dessen zentrales Ziel formuliert „die Erinnerung an das Geschehen wach zu halten, indem [...] die Gedenkstätte ein Ort ist, an dem Lernen für Gegenwart und Zukunft stattfinden kann." Im Kontext erinnerungskultureller Fragestellungen ist es von ebenso hoher Bedeutsamkeit, sich auch mit antisemitischen Tendenzen in der Gegenwart auseinanderzusetzen.
Vielleicht hast auch du in deiner Schulzeit schon einmal zu den Ereignissen des 9. November 1938 in Neustadt gearbeitet? Ohne die Gedenkveranstaltungen der letzten Jahrzehnte an dieser Stelle in ihrer Breite darstellen zu können, wollen wir dir im Folgenden kleine Einblicke in erinnerungskulturelle Kontroversen sowie die Ausgestaltung des Gedenkens heute geben.
Tipp: Weiterführende Informationen rund um die Neustadter Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus findest du im Ausblick: Das Erbe der Volksgemeinschaft.
Die Kontroverse um die (Um-)Nutzung des (ehemaligen) Synagogengeländes im Jahr 1988
M8: Bestrebungen von Neustadter*innen zur (Um-)Nutzung des (ehemaligen) Synagogengeländes
47 Jahre nach der Reichspogromnacht, im Jahr 1985, baute die Jüdische Kultusgemeinde der Rheinpfalz mit Zustimmung der Stadt auf dem ehemaligen Gelände der Synagoge Wohnhäuser.
M9: Die jüdische Kultusgemeinde äußerte sich 1988 zur (Um-)Nutzung des (ehemaligen) Synagogengeländes
M10: Das Landesdenkmalamt in Mainz äußerte sich 1988 zur (Um-)Nutzung des (ehemaligen) Synagogengeländes
...und heute? Neustadt gedenkt der Reichspogromnacht
M11: Auszüge einer Rede des heutigen Oberbürgermeisters Marc Weigel aus dem Jahr 2013 zum 75-jährigen Gedenken an die Reichspogromnacht in Neustadt
M12: Facebook-Post des Oberbürgermeisters Marc Weigel vom 10. Oktober 2019 nach dem antisemitischen Attentat von Halle
Aufgaben
Vertiefungsangebot: Eine historische Forschungsarbeit erstellen