3.5 Die Reichspogromnacht 1938 im Spiegel zeitgenössischer Quellen und erinnerungskultureller Rezeption

Stadtarchiv Neustadt a.d.W., September 2020

Die Historikerin Clara-Louise Noffke liest einen 1994 in deutscher Übersetzung erschienenen Zeitzeugenbericht zur Reichspogromnacht von Jack Heinz Honig. Der zum Zeitpunkt der Pogromnacht 16-jährige Honig arbeitete damals als Lehrling im Hause des Matzenbäckers Richard Mayer. Die deutsche Übersetzung des Berichts erschien 1994 im Evangelischen Kirchenboten.

Warum wohl steht ein solches Video, das eine der Autorinnen des Schulgeschichtsbuches im Stadtarchiv Neustadt a.d.W. beim Quellenstudium zeigt, zu Beginn dieses Unterkapitels? Warum wohl haben wir einen Zeitzeugenbericht der Ereignisse eingesprochen und diesen zudem mit Musik unterlegt? Wir möchten euch zeigen, dass auch uns die Auseinandersetzung mit den vielfältigen Zeugnissen zur Judenverfolgung und -vernichtung bewegt hat. Als Historiker*in steht man fortwährend vor der Aufgabe, die notwendige, wissenschaftliche Distanz zu den betrachteten Geschehnissen aufzubauen und zugleich einen möglichst differenzierten Blick zu bewahren. Gelingen kann dabei stets nur die Rekonstruktion von Perspektiven. Behalte dies im Hinterkopf, wenn du in diesem Unterkapitel die Historiker*innentexte, Presseartikel und Zeitzeug*innenberichte zu den Geschehnissen der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 untersuchst.

1. Die Reichspogromnacht - Ereignisgeschichtliche Perspektiven

Um die Ereignisse der Reichspogromnacht in Neustadt historisch-kritisch zu betrachten ist eine Auseinandersetzung mit vielfältigem Quellenmaterial unerlässlich. Die im folgenden zitierten Auszüge aus Arbeiten der Historikerin Laura Leydecker stützen sich daher sowohl auf Presseberichte und Aktenmaterial aus dem Stadtarchiv Neustadt a.d.W., auf Zeitzeug*innenaussagen, aber auch auf Prozessakten aus dem Landesarchiv in Speyer. Von 1949 bis 1969 fand am Landesgericht in Frankenthal der sogenannte „Synagogenprozess" statt, in dem eine juristische Aufarbeitung der Geschehnisse angestrebt wurde. Die Zeug*innen- und Täteraussagen, die Anklage- und Urteilsschriften sind daher zur Rekonstruktion der Ereignisse gleichermaßen beachtet worden. In den Auszügen der Arbeit Laura Leydeckers sind wörtlich übernommene Passagen des Quellenmaterials stets kursiv gesetzt sind, damit du sie von den Ausführungen der Historikerin unterscheiden kannst. Zunächst beschreibt Laura Leydecker selbst die Entstehung ihrer Arbeit im Podcast.

Die Historikerin Laura Leydecker beschreibt im Podcast „Volksgemeinschaft im Fokus“ ihre Arbeit zur jüdischen Geschichte Neustadts im Nationalsozialismus.
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Wer sind Sie und welchen Aufsatz haben Sie geschrieben?
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Was finden Sie an Ihrem Thema spannend?
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Was halten Sie für schwierig und wo sehen Sie Herausforderungen?
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Warum ist Ihr Thema bis heute noch relevant?

Orte, Beteiligte und Verlauf der Geschehnisse

M2: Das jüdische Altersheim in Neustadt vor und nach der Reichspogromnacht 1938

Über das Anklicken der Items kannst du das 1912 erbaute und 1938 zerstörte jüdische Altersheim in Neustadt erkunden. Die im Stadtarchiv Neustadt a.d.W. erhaltenen Bilder des Altersheims vor der Reichspogromnacht zeugen von der Größe des Baus, in dem zeitweise bis zu 130 Bewohner*innen untergebracht waren.

Aufgaben

  1. Arbeite ausgehend von M1 die Darstellung der Ereignisse der Reichspogromnacht in Neustadt heraus.
  2. Markiere auf einem historischen Stadtplan Neustadts (siehe Download) zentrale Orte der Nacht des 9. auf den 10. November 1938 und ihre Bedeutung für die Geschehnisse. Berücksichtige hierzu folgende Orte, gerne kannst du auch weitere Orte hinzunehmen:

  • Das "Kriegerdenkmal" in der Hauptstraße
  • Der Saalbau am Hauptbahnhof
  • Die Gambrinushalle in der Talstraße
  • Die Synagoge in der Ludwigstraße
  • Das jüdische Altersheim in der Karolinenstraße (heute Hauberallee)


  1. Nimm dir Zeit, das jüdischen Altersheim in M2 und M3 zu erkunden. Tausche dich mit Mitschüler*innen über die Wirkung deiner digitalen Erkundungstour (M2) aus.

    Tipp: Über das Lautsprechersymbol unten links kannst du dich während deiner Erkundung auch von Musik begleiten lassen. Es ist eine Geigenmelodie in F (Op. 3, Nr. 1) zu hören, komponiert von Anton Rubinstein. Achte darauf, ob die Musik deine persönlichen Eindrücke verändert.

Hier findest du einen historischen Stadtplan Neustadts, wahrscheinlich aus den 1920er Jahren, zum Download.

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Reaktionen in der Presse

M5: Das lokale Pressepanorama des 10. November 1938

M6: Ausschnitte der Zeitschrift Jüdische Pressezentrale Zürich vom 18. November 1938 (21/Nr. 1014)

Aufgaben

  1. Beurteile ausgehend von M4 und M5 die Reaktionen der lokalen Presse auf die Reichspogromnacht.
  2. In der Galerie M6 findest du Ausschnitte der Jüdischen Pressezentrale Zürich vom 18. November 1938. 

    a) Beschreibe zunächst, wie die Zeitschrift auf die Geschehnisse der Reichspogromnacht im Deutschen Reich reagiert.
    b) Überlege anschließend, warum an dieser Stelle Ausschnitte einer in der Schweiz erschienenen, jüdischen Zeitschrift gezeigt werden.

    Tipp: Weitere Informationen zur Presse im Nationalsozialismus findest du auch im Medienbaustein „Mit Zeitungen lernen".

Reaktionen in der Bevölkerung - Opfer, Täter*innen, Zuschauer*innen

Aufgaben

  1. Erläutere ausgehend vom M7, die These der Historikerin Leydecker, nach der in Neustadt "die 'Volksgemeinschaft' nicht in ihrer Gänze hinter dem Pogrom stand, aber auch, dass sich viele außer Stande fühlten, dies öffentlich zu vertreten".
  2. Stelle Vermutungen auf, warum eine juristische Verurteilung aller an den Geschehnissen der Reichspogromnacht Verantwortlichen in der Nachkriegszeit wenig erfolgreich verlief.

    Tipp: Zur Beantwortung der Frage können dir auch die Lektüre der Lexikonartikel zu Hans und Hermann Keil sowie zu Max Siegelwachs weiterhelfen. Beachte dabei insbesondere die Passagen zur Zeit nach 1945.

2. Der 9. November 1938 in der Erinnerung von Zeitzeug*innen

Die Geschehnisse der Reichspogromnacht blieben in der Erinnerung der Neustadter Bevölkerung über Jahre hinweg präsent. Im Folgenden findest du eine Zusammenstellung von (teilweise nachgesprochenen) Zeitzeug*innenberichten mit einem zeitlichen Abstand von jeweils rund vier Jahrzehnten, die dir anhand von verschiedenen Ausschnitten einen Einblick in die Verschiedenheit der Erinnerungen ermöglicht. Beachte im Folgenden die biografischen Hintergründe der Zeitzeug*innen sowie die jeweiligen Entstehungskontexte ihrer Berichte.

I. Vertonte Zeitzeug*innenberichte der 1930er/1940er Jahre

Die Zeitzeug*innenberichte der Jahre 1938, 1947 und 1949 liegen in schriftlicher Form vor und wurden für das multimediale Schulgeschichtsbuch nachträglich vertont. Zur Vertonung wurden die Berichte gekürzt und einzelne Passagen getilgt.

II. Zeitzeug*innen berichten im Jahr 1984

Die Zeitzeug*innengespräche aus dem Jahr 1984 wurden von Karl Fücks geführt und aufgezeichnet. Für das Schulgeschichtsbuch wurden bestimmte Sequenzen ausgewählt. 

III. Zeitzeug*innen berichten im Jahr 2018

Die Zeitzeug*innengespräche von Heinz Seewald, Erika Schorr und Marion Rößler wurden 2018 von der Historikerin Kathrin Kiefer in Neustadt geführt und aufgezeichnet. Die Namen der Zeitzeug*innen wurden pseudonymisiert11.

Aufgaben

  1. Erläutere zunächst formale Unterschiede der überlieferten Zeitzeug*innendokumente aus allen drei zeitlichen Ebenen.

    Tipp: Beachte hierzu die Informationen zur jeweiligen Form der Überlieferung sowie zur Darstellung im multimedialen Schulgeschichtsbuch.

  2. a) Vergleiche, sofern bekannt, die persönlichen Hintergründe sowie die zeitliche Distanz der Zeitzeug*innen zur Reichspogromnacht.
    b) Bewerte, inwiefern sich diese Informationen auf deine Interpretation der Berichte auswirken.

    Tipp: Beziehe zur Beantwortung der Aufgabe 9b) deine Erkenntnisse aus der ersten Sektion des vorliegenden Unterkapitels zur Reichspogromnacht ein.

  3. Diskutiere, inwiefern sich nachträglich vertonte Zeitzeug*innenberichte sowie (vermeintlich) authentische, aufgezeichnete Zeitzeug*innenberichte in ihrem historischen Erkenntniswert unterscheiden.

3. Die Reichspogromnacht in der Neustadter Erinnerungskultur

Ob in Gottesdiensten, Schweigemärschen, Theaterstücken oder öffentlichen Gedenkveranstaltungen – die Neustadter Erinnerungskultur an die Reichspogromnacht ist seit knapp 30 Jahren ausgesprochen rege. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sollte es jedoch zunächst noch dauern, bis  auch eine öffentliche Aufarbeitung der Geschehnisse angestoßen wurde. Der 50. Jahrestag der Reichspogromnacht, die aus diesem Anlass 1988 in den Räumen des Stadtarchivs eröffnete Ausstellung mit dem Titel „Vor 50 Jahren – Neustadt unter dem Nationalsozialismus“ sowie die zeitgleiche Enthüllung des Gedenksteins zur Erinnerung an die Synagoge in der Ludwigstraße trugen maßgeblich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Geschehnissen bei.  

In der Satzung des Fördervereins der 2013 gegründeten Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt wird als dessen zentrales Ziel formuliert „die Erinnerung an das Geschehen wach zu halten, indem [...] die Gedenkstätte ein Ort ist, an dem Lernen für Gegenwart und Zukunft stattfinden kann." Im Kontext erinnerungskultureller Fragestellungen ist es von ebenso hoher Bedeutsamkeit, sich auch mit antisemitischen Tendenzen in der Gegenwart auseinanderzusetzen. 

Vielleicht hast auch du in deiner Schulzeit schon einmal zu den Ereignissen des 9. November 1938 in Neustadt gearbeitet? Ohne die Gedenkveranstaltungen der letzten Jahrzehnte an dieser Stelle in ihrer Breite darstellen zu können, wollen wir dir im Folgenden kleine Einblicke in erinnerungskulturelle Kontroversen sowie die Ausgestaltung des Gedenkens heute geben.

Tipp: Weiterführende Informationen rund um die Neustadter Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus findest du im Ausblick: Das Erbe der Volksgemeinschaft.

Die Kontroverse um die (Um-)Nutzung des (ehemaligen) Synagogengeländes im Jahr 1988

47 Jahre nach der Reichspogromnacht, im Jahr 1985, baute die Jüdische Kultusgemeinde der Rheinpfalz mit Zustimmung der Stadt auf dem ehemaligen Gelände der Synagoge Wohnhäuser.

...und heute? Neustadt gedenkt der Reichspogromnacht

M12: Facebook-Post des Oberbürgermeisters Marc Weigel vom 10. Oktober 2019 nach dem antisemitischen Attentat von Halle

Facebook-Post Marc Weigels vom 10. Oktober 2019

M13: Die Reichspogromnacht in der Neustadter Erinnerungskultur

Aufgaben

  1. a) Fasse ausgehend von M8, M9 und M10 sowie unter Bezugnahme auf die Info-Box zur Synagoge in der Ludwigstraße die Kontroverse um die Umnutzung des Grundstücks der ehemaligen Synagoge 50 Jahre nach der Reichspogromnacht zusammen.
    b) Nimm kritisch Stellung zur Entscheidung der Umnutzung des Grundstücks der ehemaligen Synagoge seit 1985.

  2. Entwickelt ein (fiktives) Antwortpanorama12 aus unterschiedlichen historischen Perspektiven auf die zum Auftakt der Rede (M11) des Oberbürgermeister Marc Weigels gestellte Frage.

    Tipp: Die Rede Weigels zum 75-jährigen Gedenken an die Reichspogromnacht findest du in kompletter Ausführung auch auf der Website der Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt.

  3. Verfasse anlässlich des kommenden Gedenkjahres eine Rede, die im öffentlichen Rahmen vorgetragen werden könnte.

    Tipp: Der Oberbürgermeister Marc Weigel hat auch im Jahr 2018 zum 80-jährigen Gedenken an die Reichspogromnacht eine öffentliche Rede gehalten. Du findest sie im Ausblick am Ende des multimedialen Schulgeschichtsbuches.

  4. Den Facebook-Post (M12) veröffentlichte Marc Weigel nach Bekanntwerden des Attentats auf eine Synagoge in Halle. Recherchiere zunächst  zu den Hintergründen des Attentats und verfasse im Anschluss einen fiktiven Kommentar auf den Post Weigels. 

  5. Betrachte die in M13 zusammengestellte Auswahl an Orten und Momenten des Gedenkens an die Reichspogromnacht in Neustadt. Die Stadt Neustadt möchte die Bilder nutzen, um das öffentliche Gedenken im kommenden November über ihren Social Media-Kanal auch in den digitalen Raum zu verlagern. Verfasse kurze Posts, die zu den einzelnen Bildern veröffentlicht werden könnten. Verschlagworte deine Posts auch mit passenden Hashtags.

    Tipp: Informationen zu weiteren Gedenkorten kannst du auch im Medienbaustein "An Orten lernen" finden. 
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