3.2 Zwangsarbeit an der Weinstraße – Europa arbeitet in Neustadt?

Kuchen backen verbinden viele Menschen mit Glücksgefühlen und nicht nur Kinder freuen sich, wenn zu Hause oder bei Freunden gebacken wird. Für jemand anderen backen – das ist doch grundsätzlich etwas Schönes, Herzliches, Gutes, oder nicht? Allerdings: Im Herbst 1941 backte eine Frau in Neustadt an der Weinstraße einen offenbar sehr leckeren Kuchen. Sie verschenkte ihn und sie kam dafür ins Gefängnis. Wie kann das sein? Was steckt dahinter? Wie tickt eine Gesellschaft, in der so etwas möglich ist? Diesen Fragen kannst du in diesem Unterkapitel nachgehen und dich mit Zwangsarbeit im Neustadter Raum zwischen 1939 und 1945 beschäftigen.

Nach Beginn des Krieges wurden immer mehr Männer zum Wehrdienst einberufen und der ohnehin bestehende Arbeitskräftemangel in Landwirtschaft und Industrie verschärfte sich dramatisch. Diesem wollte das NS-Regime mit dem massenhaften Einsatz von ausländischen Arbeitskräften begegnen. So waren über 13 Millionen Ausländer*innen zwischen 1939 und 1945 im Deutschen Reich beschäftigt – die meisten von ihnen zwangsweise. Arbeiten für das Deutsche Reich mussten a. Kriegsgefangene b. Häftlinge unter anderem aus Konzentrationslagern und nicht zuletzt c. sogenannte „Zilvilarbeiter“, die zum größten Teil unter Gewaltanwendung aus ihrer Heimat fortgebracht worden waren. In Neustadt lebten während des Zweiten Weltkrieges über 2 000 ausländische Arbeitskräfte – sie werden im Folgenden im Blickpunkt stehen. Dabei soll in vier Schritten vorgegangen werden. 1. Zunächst wirst du erfahren, auf welchen Wegen die ausländischen Beschäftigten in die Pfalz kamen. 2. Dann gilt das Interesse ihren Lebens- und Arbeitsbedingungen. 3. Du wirst in Augenschein nehmen, wie die ausländischen Arbeiter*innen mit den äußeren Gegebenheiten umgingen, und 4. schließlich das Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung betrachten.

1. Wege nach Neustadt

M1: Die größten Gruppen ausländischer Beschäftigter in Neustadt 1939–1945

M2: Bekanntmachung des Stadtkommissars von Kiew, 31. Mai 1943

Aufgaben

  1. Fasse mit Hilfe von M1 die Bereiche zusammen, in denen ausländische Arbeitskräfte während des Zweiten Weltkrieges in Neustadt zum Einsatz kamen.
  2. Arbeite mit Hilfe der Info-Boxen und M1-M3 die Wege heraus, auf denen ausländische Arbeitskräfte im Zweiten Weltkrieg nach Neustadt kamen. 

    Tipp: Beachte dabei die Unterschiede zwischen Arbeitskräften aus Westeuropa und solchen aus Osteuropa.

  3. Versetze dich mit Hilfe von M1-M3 in Halina P. und verfasse mögliche abendliche Tagebucheinträge für Tage vom 7. bis zum 12. Oktober 1943.
  4. Über die allermeisten Menschen, die in Neustadt Zwangsarbeit verrichten mussten, haben wir keine persönlichen Informationen. Diskutiere mögliche Gründe dafür.

2. Lebens- und Arbeitsbedingungen

M5: Abzeichen für polnische Zwangsarbeiter*innen und „Ostarbeiter*innen“

Abzeichen für polnische Zwangsarbeiter*innen

Aufgaben

  1. Beschreibe ausgehend von M4-M9 die Situation osteuropäischer Arbeiter*innen im Deutschen Reich. Gehe hierbei auf Arbeitsrecht, Unterbringung, Entlohnung und Bestrafung bei Fehlverhalten ein.
  2. Skizziere mit Hilfe der Info-Box und M4-M9, inwiefern die deutschen Kolleg*innen, die Unternehmen und der deutsche Staat vom Einsatz der ausländischen Zwangsarbeiter*innen profitierten.

    Tipp: Berücksichtige dabei auch die Lexikonartikel „Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, allgemein“, „Zwangsarbeit, Alltag“ sowie „Zwangsarbeit, Organisation“.

  3. In der NS-Propaganda hieß es immer wieder „Europa arbeitet in Deutschland“.
    a) Setze dich mit dieser Aussage auseinander und formuliere eine dir passend erscheinende Überschrift, um den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte im Deutschen Reich zwischen 1939 und 1945 zu charakterisieren.
    b) Begründe die Formulierung deiner Überschrift.

  4. Die Forschung hat herausgearbeitet, dass sich unter den als besonders „minderwertig“ betrachteten Arbeitskräften aus Osteuropa sehr viele Frauen befanden. Erkläre dies anhand von M10 und vor dem Hintergrund deiner im Unterkapitel 2.2 gewonnenen Erkenntnisse.
  5. Im Deutschen Kaiserreich (1871-1918) waren osteuropäische Arbeitskräfte besonderen Beschränkungen ausgesetzt und mussten zum Beispiel im Winter das Land verlassen, was sie von sozialen Leistungen auf den Gutshöfen ausschloss und den Gutsherren viel Geld sparte. Auch in der Europäischen Union mussten Arbeitskräfte aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland oder Litauen bis 2011 jahrelang warten, ehe ihnen die freie Wahl eines Arbeitsplatzes zugestanden wurde.
    a) Recherchiere zu den Begriffen „Rückkehrzwang“ im Kaiserreich und „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ in der Europäischen Union.
    b) Nimm Stellung zu der These, dass sich hinsichtlich der Diskriminierung von osteuropäischen Arbeitskräften in Deutschland zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts über den Zweiten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert praktisch nichts verändert hat.

    Tipp: Für deine Recherchen kannst du die Seite der Bundeszentrale für politische Bildung nutzen.

3. Überlebensstrategien

Aufgaben

  1. Arbeite anhand von M11-M13 den Umgang ausländischer Beschäftigter mit den Zwängen des NS-Regimes heraus.

    Tipp: Achte auf die Unterschiede, die dabei festzustellen sind.

  2. a) Versetze dich mit Hilfe von M11-M13 in Halina P. und schreibe einen Brief, in dem sie ihren Eltern über ihr Leben in Deutschland erzählt.
    b) Markiere im Brief die Aspekte, die dir besonders wichtig sind.
    c) Begründe deine Markierungen.
  3. Häufig äußerten sich Zwangsarbeiter*innen in ihren Postkarten und Briefen nach Hause positiv über ihre Situation in Deutschland, manchmal waren den Briefen sogar Fotos lachender Gesichter beigefügt. Diskutiere Gründe für die Entstehung solcher Schreiben und ihren historischen Quellenwert.

    Tipp: Beziehe in deine Überlegungen die in M13 gewonnenen Erkenntnisse ein.

  4. Der Themenbereich „Überlebensstrategien" kann wegen der schlechten Quellenlage nur sehr kurz für Neustadt behandelt werden. Braucht man ihn überhaupt? Nimm dazu Stellung.

    Tipp: Weiterführende Informationen zur Perspektive ausländischer Zwangsarbeiter*innen findest du über das Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“.

4. Zwangsarbeiterschaft und Volksgemeinschaft

M15: Amtliches Merkblatt mit Verhaltensregeln gegenüber polnischen Zwangsarbeitern*innen von 1940

Klicke auf das Merkblatt, um die Transkription zu lesen.

close

Merkblatt

Wie verhalten wir uns gegenüber den Polen?

Um die Ernährung des deutschen Volkes zu sichern und der deutschen Landwirtschaft die hierfür nötigen Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen, werden in diesem Jahre eine große Anzahl Polen in der Landwirtschaft eingesetzt. Sie sollen es den deutschen Bauern erleichtern, den Aushungerungsversuch unserer Feinde zunichte zu machen.

Dafür erwarten wir von allen Volksgenossen auf dem Lande:

Haltet Abstand von den Polen!

Sie gehören einem Volke an, das noch vor wenigen Monaten 58 000 Deutsche ermordet hat.

Werdet nicht zu Verrätern an der deutschen Volksgemeinschaft!

Die Polen gehören nicht zur deutschen Volksgemeinschaft. Wer sie wie Deutsche behandelt oder gar noch besser, der stellt seine eigenen Volksgenossen auf eine Stufe mit Fremdrassigen. Das gleiche gilt auch für den deutschen Gruß. Wenn es nicht zu vermeiden ist, daß sie mit euch unter einem Dach wohnen, dann bringt sie so unter, daß jede engere Berührung mit eurer Familie ausgeschlossen ist.

Laßt Polen nicht mit an eurem Tisch essen!

Sie gehören nicht zur Hofgemeinschaft, noch viel weniger zur Familie. Ihr sollt ihnen zwar genügend zu essen geben, sie sollen aber getrennt von euch essen.

Bei euren Feiern und Festen haben die Polen nichts zu suchen!

Wir wollen in unseren Feiern und Familienfesten unter uns sein. Die Polen sind ein fremdes Volk. Sie werden unter sich ihre eigenen Feiern veranstalten.

Nehmt die Polen nicht in eure Gasthäuser mit!

Sie werden es euch nicht danken. Es wird dafür gesorgt werden, daß bestimmte Gasthäuser an einem Tag der Woche ausschließlich den Polen zur Verfügung stehen.

Gebt den Polen auch sonst keine Vergünstigungen!

Wenn ihr glaubt, durch Geschenke ihre Arbeitsfreudigkeit zu steigern, so irrt ihr euch. Jede weichliche Behandlung schwächt erfahrungsgemäß ihren Willen zur Arbeit.

M16: Korrespondenz des Neustadter Oberbürgermeisters zu ausländischen Patient*innen im Krankenhaus „Hetzelstift“, 1942/43

M17: Zwangsarbeit und Volksgemeinschaft (Zeitstrahl)

M18: Videos aus dem Jahr 2020, „Verbotener Umgang“ im Krieg

„Verbotenes Brot“
„Verbotene Liebe“

Aufgaben

  1. a) Fasse mit Hilfe von M14 und M15 die Vorgaben zusammen, die das NS-Regime seiner Bevölkerung für den Umgang mit den ausländischen Arbeitskräften im Zweiten Weltkrieg machte.
    b) Erläutere unter Einbezug von M14 und M15 die Gründe, die für diese Vorgaben angeführt wurden.
  2. Erarbeite anhand von M16-M18 eine Mindmap zu der Frage, inwiefern die Vorgaben des NS-Regimes zum Umgang mit Ausländer*innen den Alltag der Menschen prägten. 
  3. a) Entwickle auf Grundlage von M17 eine Theaterszene: Vor der Gestapo werden nacheinander drei Personen verhört: die Hilfsarbeiterin, die einem Kriegsgefangenen einen Kuchen gebacken hat; der Kriegsgefangene, der den Kuchen bekommen hat; die Nachbarin, welche die Hilfsarbeiterin und den Kriegsgefangenen angezeigt hat.
    b) Beurteile ausgehend von deinem Inszenierungsvorschlag das in den jeweiligen Szenen dargestellte Verhältnis zwischen der Gestapo und den verhörten Personen.
  4. Nimm Stellung zu der These, dass die „einfachen Deutschen“ von den Verbrechen des NS-Regimes nichts wussten.

    Tipp: Ordne M16 und M17 hierzu quellenkritisch ein.

  5. Setze dich kritisch mit der Forschungsmeinung auseinander, dass die Volksgemeinschaftsideologie im Laufe des Krieges immer mehr an Bedeutung verlor.
  6. a) Höre dir im Zeitzeug*innen-Archiv die Gesprächsausschnitte zur Zwangsarbeit an.
    b) Fasse die Aussagen der Zeitzeug*innen zum Umgang mit ausländischen Beschäftigten im Zweiten Weltkrieg zusammen.
    c) Bewerte die Aussagen ausgehend von deinen in diesem Unterkapitel erworbenen Erkenntnissen.
    d) Diskutiere mögliche Gründe für die Aussagen der Zeitzeugen*innen.
chevron_left chevron_right