Bradfisch, Dr. Otto

Otto Bradfisch im Kieler Schwurgericht als Zeuge (27. Februar 1964).

von Martin Hanisch

Geboren am 10. Mai 1903 in Zweibrücken als zweites von vier Kindern einer Kaufmannsfamilie, besuchte Bradfisch zunächst die Volksschule und das humanistische Gymnasium in Kaiserslautern. Danach studierte er in Freiburg, Leipzig, Heidelberg und Innsbruck Staatswissenschaften. Nach seiner Promotion zum Dr. rer. pol. im Jahr 1926 absolvierte er zusätzlich ein weiteres rechtswissenschaftliches Studium und fand ab 1935 als Verwaltungsbeamter im bayerischen Innenministerium Beschäftigung. Noch während seines Studiums trat Bradfisch am 1. Januar 1931 der NSDAP bei sowie ab September 1938 der SS, in welcher er zuletzt den Rang eines Obersturmbannführers innehatte. Nachdem er auf sein Gesuch hin 1937 in den polizeilichen Dienst übernommen worden war, bekam er am 1. Juli 1937 die Leitung der Gestapo-Dienststelle in Neustadt übertragen und hatte diese bis im Frühjahr 1941 inne. Unter seiner Verantwortung kam es dort zu zahlreichen Verhaftungen, Verhören und Misshandlungen politischer Gegner und „Homosexueller“. An den Vorbereitungen der Neustadter NS-Obrigkeit zur Reichspogromnacht am 9./10. November 1938 war er ebenfalls beteiligt. Mit Beginn des Vernichtungsfeldzuges gegen die Sowjetunion 1941 wurde Bradfisch bis zum 1. April 1942 als Führer des SS-Einsatzkommandos 8 bei der Einsatzgruppe B eingesetzt. In dieser Funktion war er mit der koordinierten Ermordung von Kommunisten, Juden und Kriegsgefangenen in Weißrussland beauftragt, machte bei Massenerschießungen teilweise selbst von der Waffe Gebrauch. Von April 1942 bis Januar 1945 war er als Leiter der Staatspolizeistelle und ab August 1943 als kommissarischer Bürgermeister im polnischen Łódź für die Deportation von über 100 000 jüdischen Menschen ins Vernichtungslager Chełmno verantwortlich. Nachdem Bradfisch die letzten Monate des Krieges in Potsdam verbracht hatte, gelangte er unter Annahme des falschen Namens Karl Evers zunächst in amerikanische und später britische Kriegsgefangenschaft, aus der er bereits im August 1945 entlassen wurde. Bis zu seiner Festnahme am 21. April 1958 lebte und arbeitete er unentdeckt in Deutschland. In einem Verfahren vor dem Landgericht München I am 21. Juli 1961 und einem zweiten Verfahren vor dem Landgericht Hannover am 18. November 1963 wurde Bradfisch wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in mehreren Zehntausend Fällen schuldig gesprochen und zu insgesamt 13 Jahren Haft verurteilt. Von dieser Strafe verbüßte er jedoch nur einen Teil, da er aufgrund seines sich vorübergehend verschlechternden Gesundheitszustandes bereits im Juli 1969 wieder in die Freiheit entlassen wurde. Bradfisch verstarb im Alter von 91 Jahren am 22. Juni 1994 im bayerischen Seeshaupt.

Quellen

Urteil des Landgerichts München I vom 21. Juli 1961 in der Strafsache gegen Dr. Otto Bradfisch wegen Beihilfe zum Mord, in: Irene Sagel-Grande u. a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. XVII. Amsterdam 1977, 657–708.

Urteil des Landgerichts Hannover vom 18. November 1963 in der Strafsache gegen Dr. Otto Bradfisch wegen Beihilfe zum Mord, in: Irene Sagel-Grande u. a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966, Bd. XIX. Amsterdam 1978, 485–557.

Literatur

Peter Klein, Der Mordgehilfe. Schuld und Sühne des Dr. Otto Bradfisch, in: Andrej Angrick/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen. Darmstadt 2009, 221–234. Ausführliche Abhandlung über Bradfischs Täterschaft im „Dritten Reich“. Enthält wichtige Anmerkungen zur zweifelhaften, milden Urteilsfällung in seinen Gerichtsprozessen sowie zu seinem mangelnden Schuldeingeständnis während der Haftzeit.

Laura Leydecker, Die Volksgemeinschaft, die jüdische Gemeinschaft. Die Verfolgung der Jüdinnen und Juden, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Die Autorin geht bei ihrer Darstellung der Geschehnisse in der Reichspogromnacht 1938 in Neustadt kurz auf die Beteiligung Bradfischs ein.

Franz Maier, Bradfisch, Otto (1903–1994), in: Christoph Picker u. a. (Hrsg.), Protestanten ohne Protest, Bd. 2: Kurzbiographien. Speyer u. a. 2016, 666–667. Prägnante Kurzbiographie Bradfischs, wobei die Rolle des evangelischen Theologen Hermann Schlingensiepen bei den Umständen seiner frühzeitigen Haftentlassung dargelegt wird.

o. A., Bradfisch, Otto, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Lexikon des Holocaust. München 2002, 35–36. Das Werk enthält eine kurze Übersicht über Bradfischs Tätigkeiten und Funktionen im Nationalsozialismus, insbesondere bei der Umsetzung der Shoah in Osteuropa.

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