Nachkriegsalltag
von Markus Raasch
Am 21./22. März 1945 besetzten US-Truppen den Raum Neustadt, bis zum 10. Juli 1945 rückten französische Besatzungstruppen in ihre Zone ein, zu der auch die Pfalz und damit Neustadt gehörte. Eine „Stunde Null“ gab es nicht, das Leben mit Restriktionen setzte sich fort. So blieben Lebensmittelkarten und Bezugsscheine gültig. Es bestanden weiterhin Ausgangssperren und Reiseverbote. Die Not in der „Zusammenbruchgesellschaft“ war groß. Die Nahrungsmittelversorgung nahm im Laufe der ersten Nachkriegsjahre durch ausbleibende Importe, die wirtschaftliche Trennung der vier Besatzungszonen, das Fehlen von Düngemitteln und Saatgut sowie ungünstige Witterungsverhältnisse zeitweise katastrophale Züge an. Im April 1947 lag die Tagesration im Raum Neustadt rechnerisch bei 658 Kalorien – d. h. bei knapp einem Drittel des normalen Satzes. Die Mangelernährung hatte gesundheitliche Folgen, bspw. breitete sich Tuberkulose aus. Zugleich blühten Schwarzmarkt- und Tauschhandel. Kinder wurden z. B. häufig umhergeschickt, um Lebensmittel zu erbetteln, zu tauschen oder Übriggebliebenes von Feldern zu sammeln. Die 1946 einsetzende Hilfe von ausländischen Wohlfahrtsorganisationen – allen voran die Cooperative for American Remittances to Europe [CARE]-Pakete – linderte die größte Not. Obwohl eine weitreichende Solidarität zwischen den Bürgern herrschte, kam es häufig zu Denunziationen und anschließenden Verurteilungen, z. B. wegen Diebstahls. Die Belastungen des Nachkriegsalltags schienen drängender als die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und vor allem halfen sie der niedergegangenen Volksgemeinschaft, sich als Leid- und Aufbaugemeinschaft neu zu erfinden und eine kritische Auseinandersetzung mit den Jahren des „Dritten Reiches“ für lange Zeit zu erschweren.
Literatur
Gabriele Stüber, Das Erbe der Volksgemeinschaft im Zeichen von Nachkriegsnot und Wiederaufbau, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Der Aufsatz betrachtet die Herausforderungen der Nachkriegszeit vor allem aus der Perspektive der Neustadter Stadtverwaltung.