„Volksgemeinschaft"

"Ausgestoßene, 1939-1945"
Frauen werden in der Öffentlichkeit die Haare abgeschnitten und damit aus der Volksgemeinschaft ausgestoßen. Solche Szenen gab es in Berlin ebenso wie in Neustadt. Foto: Scherl/Süddeutsche Zeitung Photo.

von Markus Raasch

Der Aufstieg des Volksgemeinschaftsgedankens ist vor allem Produkt des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts und maßgeblich mit den komplexen Spannungslagen seiner Zeit verbunden. Er stand für die Sehnsucht nach sozialer Harmonie und zielte auf eine ethnisch gefasste Gemeinschaft, deren Interessen höher zu bewerten seien als jene des Individuums, eine Gemeinschaft, die derart geeint zu höchsten kulturellen Leistungen befähigt werde und im „Überlebenskampf der Völker“ über bessere Chancen verfüge. Lange Zeit bedienten sich alle politischen Kräfte der Idee der Volkgemeinschaft, um ihre jeweiligen Interessen und Ziele durchzusetzen. Dies galt insbesondere nach 1914, als so viele in der teils realen, teils fiktiven Kriegsbegeisterung der Deutschen ein „Augusterlebnis“ erkannten, die Utopie des klassenlosen, von Sonderinteressen befreiten Gemeinwesens zumindest für kurze Zeit verwirklicht schien und der Gedanke der Volksgemeinschaft in der Folge zu einer, wenn nicht der prägenden, politischen Denkfigur aufstieg. So formulierte auch der Nationalsozialismus unter ihrer Überschrift ein wirkungsmächtiges Programmangebot, das als politischer Ordnungsbegriff und Zukunftsversprechen überaus vage war, in seinen zentralen Botschaften aber sehr klar: Das individuelle Glück hängt an einer erbbiologisch gedachten Gemeinschaft – alles was nicht zur erbbiologisch gedachten Gemeinschaft passt, muss gewaltsam ausgesondert werden – die Gemeinschaft profitiert von der Aussonderung des „Gemeinschaftsfremden“. Diese Volksgemeinschaftsidee beschrieb nach 1933 die ideelle Grundlage der NS-Diktatur, sie ließ kein soziales Handlungsfeld unberührt – von Erziehung über Wirtschaft, Kultur und Sport bis zu Liebe und Sexualität – und vor allem besaß sie Appellcharakter: Volksgemeinschaft war nicht einfach da, sie musste im Alltag – im Berufsleben, im Verein, in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Familie – „gemacht“, „gestaltet“, „verteidigt“ und „erkämpft“ werden. Diese soziale Praxis nationalsozialistischer Herrschaft untersucht die Volksgemeinschaftsforschung. Sie versucht zu verstehen, was der Nationalsozialismus mit den Menschen machte, auf welche Weise, mit welchem Erfolg und mit welchen Auswirkungen er die Bevölkerung mobilisierte, welche sozialen Dynamiken er wann und mit welchen Folgen in Gang setzte.

Literatur

Detlef Schmiechen-Ackermann (Hrsg.), Der Ort der „Volksgemeinschaft“ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte. Leiden u. a. 2018. Wichtiger, von einem führenden Experten herausgegebener Band, der neben verschiedenen Fallstudien auch eine Einführung in Entstehung, Entwicklung und Herausforderungen der Volksgemeinschaftsforschung bietet.

Peter Schyga, Über die Volksgemeinschaft der Deutschen. Begriff und historische Wirklichkeit jenseits historiographischer Gegenwartsmoden. Baden-Baden 2015. Die Monographie gibt Einblick in die Geschichte des Volksgemeinschaftsbegriffes und bietet zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Volksgemeinschaftsforschung.

Martina Steber/Bernhard Gotto (Hrsg.), Volksgemeinschaft und die Gesellschaftsgeschichte des NS-Regimes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62, 2014, 433–445. Dieser Standardtext überführt den Begriff der „Volksgemeinschaft“ in ein wissenschaftliches Analysemodell.

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