Behinderung, Menschen mit

„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ aus dem Reichsgesetzblatt vom 25. Juli 1933.

von Barbara Jahn

Der in der NS-Ideologie angelegte Dualismus von Exklusion und Inklusion prägte auch in Neustadt und Umgebung den Alltag von Menschen mit Behinderung zwischen 1933 und 1945. Einerseits zählten die Betroffenen zu jenen „Minderwertigen“, die aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen und verfolgt wurden. Seit der Machtübernahme der NSDAP durch umfangreiche Propagandakampagnen etwa in der Neustadter Tagespresse oder im Rahmen lokaler Ausstellungen kontinuierlich diffamiert und stigmatisiert, fielen mindestens 47 Neustadterinnen und Neustadter als vermeintlich „Erbkranke“ dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 und damit der Zwangssterilisation zum Opfer. Ihre Unfruchtbarmachung erfolgte unter anderem im Neustadter Stadtkrankenhaus Hetzelstift. Darüber hinaus wurden in den Jahren 1940/1941 wenigstens elf Frauen und fünf Männer aus Neustadt und Umgebung im Zuge der „Euthanasie“-Aktion „T4“ getötet. Den auf diese Weise Verfolgten standen in Neustadt jedoch andererseits jene Blinden, Gehörlosen und Körperbehinderten gegenüber, die als „erbgesunde“ und „leistungsfähige Volksgenossen“ in die Volksgemeinschaft integriert werden sollten. Sie waren zum Bezug staatlicher Förderungen ebenso berechtigt wie zur Mitgliedschaft in der NSDAP oder in den verschiedenen Behindertenselbsthilfeorganisationen wie dem „Reichsdeutschen Blindenverband“ oder dem „Reichsverband der Körperbehinderten“. Allesamt in Neustadt durch Orts- oder Kreisgruppen vertreten, sahen die Selbsthilfeorganisationen die wirtschaftliche „Brauchbarmachung“ ihrer Mitglieder durch Schulungen oder Arbeitsvermittlung als Hauptziel. Darüber hinaus schienen die Betroffenen aber auch aktiv nach Möglichkeiten der Teilhabe am NS-Regime gesucht zu haben. In den Selbsthilfeorganisationen waren sie nicht nur als Mitglieder vertreten, sondern setzten an entscheidenden Positionen die Volksgemeinschaftsideologie in die Tat um und bekannten sich öffentlich zum NS-Staat und seinen Zielen.

Quellen

Bundesarchiv Berlin R 179; Landesarchiv Speyer H41, O46; Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Vom 14. Juli 1933, in: Reichsgesetzblatt Teil I 86, 1933, 529–531; NSZ Rheinfront. Ausgabe Ost, 1933–1935; NSZ Rheinfront. Ausgabe Süd, 1936–1939; NSZ Rheinfront. Ausgabe Neustadt an der Weinstraße, 1937; Pfälzischer Kurier. Pfälzer Anzeiger und Handelsblatt. Ausgabe Haardt, 1933–1935; Pfälzer Anzeiger. Die Heimatzeitung der Haardt, 1935–1937.

Literatur

Giesela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Geschlechterpolitik. Opladen 1986. Mit Fokus auf die Jahre 1933 bis 1939 gilt Gisela Bocks Studie nach wie vor als Standardwerk zur Erforschung der NS-Zwangssterilisation.

Petra Fuchs, „Körperbehinderte“ zwischen Selbstaufgabe und Emanzipation. Selbsthilfe – Integration – Aussonderung. 2. Aufl. Berlin 2001. Die Monographie beschäftigt sich mit der Geschichte der Selbsthilfeorganisationen Körperbehinderter in den Jahren 1919 bis 1945. Hierbei beleuchtet sie gerade auch den Alltag körperbehinderter Männer und Frauen in der Zeit des „Dritten Reichs“ und geht der Frage nach deren politischer Eigenverantwortung und somit Täter- und Mittäterschaft nach.

Ernst Klee, „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt a. M. 1983. Die Studie Ernst Klees gilt als Standardwerk der geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit der „Euthanasie“ im „Dritten Reich“.

Carol Poore, Disability in Twentieth-Century German Culture. Michigan 2007. Die Studie zeichnet ein differenziertes Bild der kulturellen Repräsentation von Behinderung in Deutschland zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Gegenwart. Im Zusammenhang mit der NS-Zeit zeigt sie dabei die höchst unterschiedlichen Lebens- und Verfolgungssituationen der verschiedenen Gruppen von Menschen mit Behinderung auf.

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