Gauhauptstadt Neustadt

Erntedankumzug 1935. Foto: Fotosammlung Hubert Eckel.

von Markus Raasch

Die Bedeutung Neustadts als Gauhauptstadt ist nicht einfach zu fassen. In politischer Hinsicht steht sie außer Frage. Von hier aus koordinierte die NSDAP ihren Weg zur Macht in der Region, von hier aus managte Josef Bürckel den „Abstimmungskampf“ in der Saarfrage, hier war spätestens 1937 mit der Einrichtung einer Staatspolizeistelle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) das Epizentrum des regionalen Verfolgungs- und Repressionsapparats. Mit Neustadt ist die „Bürckel-Wagner-Aktion“ und damit die regionale Koordination der Shoah verbunden und selbst nach 1940 kam der Stadt eine Sonderrolle zu, weil sie Wohn- und Dienstort des Gauleiters und damit informelles Machtzentrum blieb. In gesellschaftlicher Hinsicht fällt die Einschätzung schwerer. Die Einwohnerzahl stieg zwischen 1925 und 1939 nur leicht von 20 726 auf 23 941, hochtrabende Bauvorhaben wie in anderen Gauhauptstädten existierten nicht. Dies lag wesentlich daran, dass Neustadts Status ein Dauerprovisorium umschrieb. Dass die Stadt 1927 Sitz der NSDAP-Gauleitung wurde, war situationsbedingt und hatte im Wesentlichen innerparteiliche und pragmatische Gründe: Am Regierungssitz im katholisch geprägten Speyer tat sich die NSDAP bis 1933 relativ schwer, die Industriestadt Ludwigshafen bestimmten noch bis 1932 linke Mehrheiten. Gauleiter Bürckel brauchte eine „Hauptstadt“, die der Inszenierung eines „ehrlichen“ pfälzischen Volkssozialismus entsprach, Kaiserslautern schien eine naheliegende Lösung, aber Bürckel war noch bis 1930 Lehrer an der Volksschule in Mußbach und auch sein Stellvertreter Ernst Ludwig Leyser lebte in der Nähe. Im Folgenden banden dann „Machtergreifung“ und „Saarkampf“ alle Kräfte und so blieb Neustadt aus pragmatischen Gründen Gauhauptstadt. Als der Bürckel-Intimus Richard Imbt 1938 als Oberbürgermeister von Neustadt nach Kaiserslautern wechselte, schienen die Voraussetzungen für eine Dauereinrichtung in der Westpfalz gegeben. Der Kriegsbeginn änderte jedoch die Situation wieder und Neustadt konnte seinen Status unverhofft bis 1940 wahren, ehe nach der faktischen Annexion des lothringischen Moseldepartements Saarbrücken zur Hauptstadt des nunmehr „Westmark“ genannten Gaus erhoben wurde. Das gesellschaftliche Leben in Neustadt gestaltete sich zwischen 1933 und 1945 grundsätzlich nicht speziell, allerdings war die Propaganda sehr rege, der Nationalsozialismus war in Stadt und Umgebung auffallend zügig und stark verankert (dies zeigt z. B. die hohe Zahl von NSDAP-Angehörigen am Amtsgericht), die NS-Organisationen verrichteten eine verhältnismäßig intensive rassenpolitische Schulungsarbeit und zugleich betrieben Behörden und Gerichte eine besonders rigorose Segregationspolitik. Auch nutzte die Gauleitung skrupellos die örtliche Konzentration von Parteistellen und Interessengruppen, um sich z. B. mit der Gründung einer eigenen Arisierungsgesellschaft (Saarpfälzische Vermögensverwertungsgesellschaft m. b. H.) an der gewaltsamen Aussonderung von Jüdinnen und Juden zu bereichern.

Literatur

Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Der Band nimmt die bisher kaum beforschte Gauhauptstadt Neustadt an der Weinstraße als Untersuchungssonde, um die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus als soziale Praxis zu beleuchten.

chevron_left chevron_right