Weinhändler Böhm

von Gerhard Wunder

1933 lebten in Neustadt 266 Juden, das entsprach 1,2 Prozent der 22 719 Einwohner. Viele hatten es als selbständige Kaufleute zu beachtlichem Wohlstand gebracht, vor allem im Weinhandel und hier besonders die „Gebrüder Rosenstiel“. Man zählte sie „zu den ganz großen […] zu vergleichen nur“ mit der nichtjüdischen Firma „Carl Jos. Hoch“ der Familien Hoch und Böhm. Deren Weinhandlung wurde 1828 gegründet, 1879 in das neu erschlossene Grundstück Talstraße 14 verlegt und später von den Kommerzienräten Karl Hoch (1882–1965) und seinem Schwager Georg Böhm (1879–1951) geleitet. Böhm wohnte mit seiner Familie sowie der Patentante seiner Frau, Witwe Lina Hoch (1862–1944), in deren Villa in der Maximilianstraße 25, die seither nach ihm „Villa Böhm“ genannt wird. Lazarus oder Louis/Ludwig Rosenstiel aus Nußloch bei Heidelberg kam spätestens 1847 nach Neustadt und betrieb hier wohl von Anfang an einen selbständigen Weinhandel, ebenso wie seine fünf Söhne (Siegfried, Albert, Isidor, Adolph, Oskar) und drei der vier Enkel. Das waren die Brüder Otto (1879–1942), der 1912 auswanderte, sowie Julius (geb. 1880) und Wilhelm/Willi (geb. 1886). Letztere hatten das Geschäft ihres Vaters Albert (1851–1924) unter dem Firmennamen „Gebrüder Rosenstiel“ so erfolgreich weitergeführt, dass sie 1933 betrieblich und privat mindestens 34 Grundstücke besaßen. Ab 1933 gerieten die Brüder in größte Schwierigkeiten. Die NS-Zeitung „Der Eisenhammer“ hatte einen „Rosenstiel“ (vermutlich Wilhelm) schon 1926 als Landesverräter, Hitler-Gegner, Juden und Separatisten des Jahres 1919 beschimpft, als „Verrätergesindel, das schon längst einen Platz an einem Laternenpfahl verdient hätte“. Das Weingeschäft brach durch den allgemeinen „Judenboykott“, in Neustadt ab dem 10. März 1933, schnell zusammen. Hinzu kamen im Fall Rosenstiel Strafverfahren. Im ersten wurden sie – wie viele, auch nichtjüdische Unternehmer mit internationalen Geschäftsbeziehungen – wegen Devisenvergehen angeklagt. Ein erstes Urteil vom 28. April 1933 sprach sie beide schuldig, die zweite Instanz am 23. Oktober 1933 verurteilte Julius zu fünf Tagen Haft und 300 Mark Geldstrafe und sprach Wilhelm frei. Danach scheinen die Brüder beschlossen zu haben, Neustadt zu verlassen, denn ab 1935 verkauften sie ihre Liegenschaften an alle möglichen Interessenten, so das Elternhaus in der Hetzelstraße 4 an die benachbarte Firma Carl Jos. Hoch und die Villa in der Waldstraße 2 am 2. Dezember 1935 an die Witwe Lina Hoch, die gleichzeitig die oben erwähnte „Villa Böhm“ an die Stadt verkaufte, die sie „der Gauleitung der NSDAP zur Verfügung“ stellte. Wilhelm zog am 12. Dezember 1935 zu seiner Schwester Eugenie, verheiratete Rosenheimer, im Hambacher Treppenweg 6 und am 30. September 1936 nach Mannheim. Inzwischen war für die Firma das Aus gekommen. Am 27. Dezember 1935 wurden beide Rosenstiel, zwei Mitarbeiter und ein Chemiker wegen Weinfälschung vorübergehend verhaftet, der gelagerte Wein beschlagnahmt und „Keller und Büros“ versiegelt. Julius Rosenstiel zog 1938 von Neustadt nach Frankfurt und vermutlich von da weiter nach England, wo seine drei Söhne lebten. Wilhelm Rosenstiel wanderte mit seiner Frau und zwei Kindern 1937 nach Rotterdam aus. Die Gestapo verhaftete sie dort 1943, sie wurden im Konzentrationslager Sobibor ermordet.

Quellen

Landesarchiv Speyer J6 12073, 12453, 13763. Restitutionsakten der Rosenstiel.

Stadtarchiv Neustadt Themenmappe Hoch (mit den Festschriften der Firma), Themenmappe Rosenstiel, Geburts-, Heirats- und Sterbebücher, Meldekarten, Adressbücher, Ratsprotokoll vom 24.06.1936 (Ankauf der Villa Böhm am 02.12.1935 war für Neustadts „Entwicklung dringend nötig“), Zeitungen (Der Eisenhammer, September 1926; Stadt- und Dorfanzeiger, 22., 28., 29.04.1933; NSZ Rheinfront, 29.04.33; Pfälzische Bürgerzeitung, 17., 24.10.1933, dort Urteil zum Devisenvergehen; NSZ Rheinfront, 18.10.1933; Neue Abendzeitung, 28.12.1935 zur Weinfälschung; Stadt- und Dorfanzeiger, 19.10.1936 zum Verkehrsunfall und Urteil).

Neue Mannheimer Zeitung, 17.10.1936. Sachlicher Bericht zum Verkehrsunfall und Urteil.

Literatur

Paul Habermehl/Hilde Schmidt-Häbel (Hrsg.), Vorbei – Nie ist es vorbei. Beiträge zur Geschichte der Juden in Neustadt. Neustadt a. d. W. 2005. S. 104 Ziegler über Statistik; 238–249 Heiko Müller über Rosenstiel mit Abb., mehrere Irrtümer und Lücken sind zu berichtigen; 307–308 Wunder über Judenboykott im März und April 1933; 311–312 Wunder über Arisierungen und Restitutionen der Rosenstiel.

Michael Huyer, Stadt Neustadt. Worms 2008. Denkmaltopographie: S. 100 Fröbelstr. 5, 138 Hetzelstraße, 210—213 Maximilianstr. 25, 264 Talstraße 8–14.

Marita Krauss (Hrsg.), Die bayerischen Kommerzienräte. München 2016. S. 414 Böhm KR 1924, 494 Hoch jun. KR 1928.

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