von Christof Krieger
Das seit 1929 alljährlich in Neustadt gefeierte „Pfälzische“ (heute: „Deutsche“) „Weinlesefest“ knüpft an das Brauchtum des geselligen Ernteabschlusses größerer Weingüter an. Die vom Verkehrsverein initiierte Veranstaltung bestand folglich zunächst lediglich aus einem sonntägigen Herbstball im städtischen Saalbau, wo sowohl in dessen großem Festsaal als auch in anderen Räumlichkeiten zeitgleich ein buntes Musik- und Unterhaltungsprogramm geboten wurde. Höhepunkte hierbei waren die jährliche „Weintaufe“ wie auch die ab 1931 abgehaltene Wahl der „Pfälzischen“ bzw. später „Deutschen Weinkönigin“. Erst in den letzten Friedensjahren des Dritten Reiches erhielt das Weinlesefest seine heutige „traditionelle“ Form. Nachdem es 1933 von den nationalsozialistischen Machthabern usurpiert – und mittels eines plumpen völkischen Weihespieles sogleich in ihrem Sinne ideologisch instrumentalisiert – worden war, erfolgte im Zuge des allgemeinen Weinfest-Booms im „Dritten Reich“ 1935 dessen Ausweitung auf zwei Veranstaltungstage. 1937 fand zudem erstmalig ein umfassender Festumzug statt, während im gleichen Jahr unter der besonderen Protektion der Gauleitung ebenfalls erstmals das Weindorf auf dem Vorplatz errichtet wurde. In diesem Zeitraum sollte sich die Besucherzahl auf annähernd 60 000 beim letzten Fest vor dem Krieg 1938 mehr als verzehnfachen. Wie bei kaum einem anderen geselligen Spektakel im „Dritten Reich“ verschmolzen beim Neustadter Weinlesefest NS-Weinpropaganda, vorgebliche Brauchtumspflege und völkische Weltanschauung zu einer unlöslichen Symbiose, deren soziale, ideologische und wirtschaftliche Aspekte dabei nachgerade zu einem Musterbeispiel konkretisierter nationalsozialistischer Volksgemeinschaft avancierten.
Quellen
Stadt- und Dorfanzeiger, 1929–1933; Pfälzische Bürger-Zeitung, 1929–1933; Pfälzischer Kurier, 1929–1934; NSZ Rheinfront. Ausgabe Ost, 1933–1936; NSZ Rheinfront. Ausgabe Neustadt a. d. W., 1937–1938; Neue Abendzeitung für den Gau Saarpfalz. Ausgabe Haardt, 1935–1936; Pfälzer Anzeiger, 1936–1939.
Literatur
Gerhard Berzel, Deutsches Weinlesefest in Neustadt an der Weinstrasse. Ein Beitrag zu seiner Geschichte. Neustadt a. d. W.1998. [Masch. Manuskript]. Bezeichnenderweise werden in dieser Darstellung die Jahre des „Dritten Reiches“ weitgehend ausgeblendet.
Christof Krieger, Die Taufe des „Rassereinen“ Rebensaftes und die verlorene Unschuld der „Deutschen Weinkönigin“. Das Neustadter Weinlesefest als Kristallisationsort nationalsozialistischer Volksgemeinschaft, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Hierbei handelt es sich um die bislang erste wissenschaftliche Darstellung des Neustadter Weinlesefestes im „Dritten Reich“.