Mit Kriegsbeginn verschärften sich die Maßnahmen gegen alle jene, die nach den rassistischen Vorstellungen der NS-Ideologie nicht zur Volksgemeinschaft gehören sollten, noch einmal bedeutend. Ab Oktober 1939 wurde die als „Euthanasie“ bezeichnete, massenhafte Ermordung (angeblich) unheilbar kranker und behinderter Menschen geplant und ab 1940 durchgeführt. Im Mai 1940 begannen die Deportationen der Sinti und Roma, die schließlich in Vernichtungslager weiterverschleppt wurden. Die Verschärfung der Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung hatte bereits 1938 mit der Reichspogromnacht sowie der Ausweisung von bis zu 17 000 Menschen mit polnischer Staatsangehörigkeit aus dem Reichsgebiet begonnen. Parallel liefen Aktionen, die Jüdinnen und Juden zur Auswanderung drängen sollten, bis Anfang 1941 ein offizielles Auswanderungsverbot erlassen wurde. Im Februar 1940 wurden tausende Menschen aus Wien, Prag und Stettin verschleppt. Die Deportationen von mehr als 6 500 Menschen aus Baden und der Saarpfalz am 22./23. Oktober in das Internierungslager im südfranzösischen Gurs war die nächste Eskalationsstufe hin zu den systematischen Massendeportationen in die Vernichtungslager ab 1942.
In diesem Unterkapitel kannst du dich zu den Deportationen der Neustadter Jüdinnen und Juden informieren. In einer abschließenden Sektion steht der erinnerungskulturelle Umgang mit den Deportationen vor Ort im Fokus. Vorgeschaltet ist dem Unterkapitel ein Interview mit den Historiker*innen Sabine Klapp und Roland Paul vom Institut für Pfälzische Geschichte und Volkskunde in Kaiserslautern, das sich mit einer eigenen Arbeitsstelle der Erforschung jüdischen Lebens in der Pfalz widmet.
Aufgaben
Die „Aktion" vom 22./23. Oktober 1940 ist in ihrer Namensgebung eng mit den beiden Gauleitern im Südwesten des Deutschen Reiches verbunden: Mit der Eroberung französischer Gebiete erhielten Josef Bürckel (Gauleiter der Saarpfalz) und Robert Wagner (Gauleiter Badens) die Verwaltungshoheit über die an ihre Gaue angrenzenden Territorien Lothringen und Elsass. Diese Gebiete sollten entgegen der Bestimmungen des Waffenstillstandes von Compiègne (1940) an die Gaue Baden und Saarpfalz angegliedert werden. Das Konzept der Volksgemeinschaft wurde auf diese Gebiete übertragen. Alle, die nicht den nationalsozialistischen Rassemerkmalen entsprachen oder sich nicht der Weltanschauung des Nationalsozialismus beugten, wurden verfolgt und verschleppt. Dazu gehörten viele Jüdinnen und Juden, die nach Gurs und in benachbarte Lager im unbesetzten Teil Frankreichs im Süden verbracht wurden.
Die Gauleiter nutzen diese Entwicklung, um mit der „Bürckel-Wagner-Aktion" entsprechende Maßnahmen auch in der Saarpfalz und in Baden durchzuführen. Die Jüdinnen und Juden aus Neustadt und Umgebung wurden unter anderem von Gestapo-Beamten am 22. Oktober 1940 festgesetzt und abtransportiert. Über die Organisation der Verschleppung liegen nur wenige Quellen vor, obwohl mehrere Dienststellen, vor allem Polizei und Gestapo, informiert gewesen sein müssen. Den betroffenen Menschen wurde erst kurz vorher ein von Gauleiter Josef Bürckel unterschriebener „Ausweisbefehl" zugestellt. Die Deportation zog sich über den Tag hin. Sie lief nicht im Verborgenen ab. Mindestens 825 Menschen aus der Pfalz, unter ihnen auch Säuglinge und ältere Menschen, wurden mit Bussen an die Bahnhöfe gebracht und dann in Güterwagen eingesperrt. Am Ende mussten sie noch auf Lastwagen umsteigen. Der von französischen Kollaborateuren1 des Vichy-Regimes2 unterstützte Transport über Metz, Nancy und Chalon-sur-Saône bis nach Gurs dauerte mehrere Tage.
Vor Ort, in der Pfalz und in Baden wurde im Zuge der Deportationen nicht nur das Vermögen der Verschleppten beschlagnahmt, sondern auch ihre Wohnungen und Häuser sowie der zurückgebliebene Hausrat versteigert. Kaum jemand protestierte gegen die „Bürckel-Wagner-Aktion". Viele beteiligten sich an den Versteigerungen und profitierten so von der Deportation. Auch für Neustadt sind noch heute Listen erhalten, die die Veräußerung der Immobilien jüdischer Familien nach 1940 belegen.
Die Bedingungen für die verschleppten Menschen waren katastrophal und viele verstarben bereits unterwegs oder kurz nach ihrer Ankunft in Gurs am 25. Oktober 1940. Andere wurden im Anschluss noch in weitere Nebenlager verbracht, etwa nach Récébédou, Rivesaltes, Pau oder Les Milles. Nur wenige konnten sich retten. Die NSDAP deportierte ab 1942 im Zuge der sogenannten „Endlösung“ auch die Jüdinnen und Juden aus Gurs nach Auschwitz-Birkenau und in andere Vernichtungslager, um sie dort zu ermorden.
M3: Bericht zum Verlauf der Deportationen in Bad Dürkheim vom 22. Oktober 1940
M5: Symbolbild eines anlässlich der Deportationen Ende Oktober 1940 gepackten Koffers
M6: Die (Haupt-)Deportationsroute Pfälzischer Jüdinnen und Juden
Aufgaben
Info-Box: Henriette Löb (*1881)
Hier erfährst du nähere Informationen zu Henriette Löb.
M8: Der Umgang mit dem Eigentum deportierter Jüdinnen und Juden – Das Beispiel des 1940 aus Mannheim deportierten Neustadter Ehepaars Strauß
M10: Die Historikerin Laura Leydecker beurteilt in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2020 die Rolle der Neustadter*innen im Kontext der Deportationen
Aufgaben
Zum Lageralltag im Internierungslager im südfranzösischen Gurs sind von dort internierten Neustadter*innen kaum Quellen erhalten. Insgesamt waren in Gurs im Jahr 1941 bis zu 12 000 Menschen interniert, unter ihnen auch rund 900 Kinder. Der Lageralltag war geprägt von Lebensmittelknappheit, einer hohen Sterberate und dem Leben auf sehr engem Raum. Um den vorherrschenden Bedingungen (gedanklich) zu entfliehen, betätigten sich die in Gurs Internierten häufig künstlerisch. So wurde etwa eine Bibliothek gegründet, es fanden Konzerte oder auch Theateraufführungen statt. Zahlreiche Werke der internierten Künstler*innen gingen während des Krieges in den Besitz Elsbeth Kassers über. Kasser arbeitete in Gurs als Krankenschwester. Heute auch als „Engel von Gurs“ bezeichnet, erhielt die Schweizerin während ihrer Tätigkeit als Krankenschwester etwa von den internierten Kindern immer wieder Geschenke.
Die erhaltenen Aquarelle, Skizzen und Gegenstände sind heute durch die ETH Zürich in einer digitalisierten Sammlung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und werden regelmäßig auch in Ausstellungen gezeigt. Ein Jahr nach Kassers Tod im Jahr 1993 wurden die Aquarelle und Skizzen der in Gurs internierten Künstler*innen auch im Hambacher Schloss gezeigt. In dieser Sektion findest du eine Auswahl der Sammlung Elsbeth Kassers, die dir eine Vorstellung des im Internierungslager Gurs herrschenden Alltags ermöglichen soll.
Info-Box: Das Internierungslager in Gurs
Hier findest du nähere Informationen zum Internierungslager in Gurs.
Info-Box: Elsbeth Kasser (1910-1992)
Hier findest du nähere Informationen zum Leben und Wirken der Schweizer Rotkreuz-Krankenschwester Elsbeth Kasser.
Aufgaben
2020 jähren sich die Oktoberdeportationen nach Gurs zum 80. Mal. Anlässlich dieses Gedenkjahres finden in Neustadt und der ganzen Pfalz zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt. So fand am 22. Oktober 2020 in Neustadt etwa am Hauptbahnhof eine von der Stadt Neustadt und der Gedenkstätte für NS-Opfer organisierte Kranzniederlegung statt. In einer Abendveranstaltung in der Martin-Luther-Kirche wurde (unter anderem) mit einem Vortrag des Historikers Roland Paul sowie dem unter Beteiligung einer Zeitzeugin, der Gedenkstätte für NS-Opfer Neustadt sowie Schüler*innen des Kurfürst-Ruprecht-Gymnasiums von Martin Mannweiler gedrehten Kurzfilms „1319 km – Gurs – gestern und heute“ an die deportierten Menschen aus Neustadt an der Weinstraße, Geinsheim, Lachen und Mußbach gedacht. Die Gedenktätigkeiten des Jahres 2020 reihen sich in die regen erinnerungskulturellen Aktivitäten Neustadts der letzten Jahrzehnte ein und fallen zugleich in eine Zeit, in der antisemitische Straftaten und politischer Extremismus europaweit zunehmen.
Info-Box: Die aus Neustadt und der Umgebung deportierten Jüdinnen und Juden
Hier findest du eine Namensliste der aus Neustadt und der Umgebung deportierten Jüdinnen und Juden.
M16: Kurzfilm "1319 km - Gurs - gestern und heute" des Filmemachers Martin Mannweiler aus dem Jahr 2020.
Den mit Unterstützung der Gedenkstätte für NS-Opfer Neustadt, dem Bezirksverband Pfalz und der Evangelischen Landeskirche finanzierte Kurzfilm Martin Mannweilers findest du unter folgendem Link.
M17: Die Historikerin Miriam Breß beschreibt in einem Essay von 2011 die Aufgabe von Erinnerungsarbeit an den Nationalsozialismus vor Ort
Aufgaben
Vertiefungsangebot: Mit historischen Datenbanken arbeiten