von Stefan Boß
Als quantitativ größte Sozialschicht, die etwa 45 Prozent der pfälzischen Bevölkerung ausmachte, war die Neustadter Arbeiterschaft eine heterogen zusammengesetzte Gruppe. Vom Landarbeiter bis zum Handwerksgesellen, vom Hilfsarbeiter bis zum Industriefacharbeiter war ein breites Spektrum an Berufsgruppen, Lebensverhältnissen und politischen Orientierungen vertreten. Um die Kontrolle über diesen Teil der Bevölkerung zu gewinnen, verfolgten die Nationalsozialisten eine Doppelstrategie: Auf der einen Seite stand die Repression. Nach Erlangung der Macht zerschlug das NS-Regime binnen weniger Monate auf radikale Weise die organisatorischen Strukturen der Arbeiterbewegung. Schrittweise wurden alle Parteien, Gewerkschaften und Vereine verboten. Funktionäre wurden verfolgt, öffentlich gedemütigt und inhaftiert. Um die große Zahl politischer Häftlinge unterzubringen, errichtete man in Neustadt ein Konzentrationslager auf dem Gelände der ehemaligen Turenne-Kaserne. Manche Arbeitervertreter bezahlten ihr politisches Engagement mit dem Leben. Neben diesem brutalen Vorgehen gegenüber der organisierten Arbeiterbewegung unternahmen die Nationalsozialisten jedoch auf der anderen Seite auch aufwendige Versuche, die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung in das geschaffene Herrschaftssystem zu integrieren. Durch den sozialrassistischen Ausschluss von Juden, „Asozialen“ und „Arbeitsscheuen“ aus der Volksgemeinschaft wurde die (körperlich) arbeitende deutsche Bevölkerung ideologisch aufgewertet. Propagandistisch ausgeschlachtete Initiativen im Bereich der Sozial- und Konsumpolitik wie die Einführung von Zuschlägen auf Nacht- und Sonntagsarbeit oder die Veranstaltung kostengünstiger Reisen durch die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ zielten unmittelbar auf die Arbeiterschaft ab, auch wenn viele Konsumversprechen für Arbeiterfamilien unerfüllbare Verheißungen blieben (z. B. der „Volkswagen“). Zudem entfaltete das von den Nationalsozialisten entworfene Narrativ des nationalen Wiederaufstiegs, das durch die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit in den 1930er Jahren Auftrieb erfuhr, eine große Strahlkraft. Der lange Zeit vorherrschenden These einer Immunität der Arbeiterschaft gegenüber dem Nationalsozialismus ist dementsprechend nicht zuzustimmen. Stichprobenartige Untersuchungen zur Sozialstruktur von NSDAP, SA und SS im Raum Neustadts legen vielmehr nahe, dass etwa jedes dritte bis vierte Mitglied der Partei und ihrer Gliederungen der Arbeiterschaft entstammte.
Literatur
Klaus-Jürgen Becker, Zerschlagung und Duldung der politischen Opposition in Neustadt während der NS-Diktatur. Das Beispiel der Arbeiterbewegung, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Der Aufsatz untersucht die Situation der politisch organisierten Arbeiterbewegung in Neustadt (Sozialdemokraten, Kommunisten) vor und nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten im Januar 1933.
Stefan Boß, Sehnsucht nach Gemeinschaft, Aufschwung und Konsum. Die Arbeiterschaft im Nationalsozialismus, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Der Aufsatz fokussiert auf die Neustadter Arbeiterschaft jenseits der politisch organisierten Arbeiterbewegung sowie Bindekräfte des NS-Regimes gegenüber dieser heterogen zusammengesetzten Gruppe.