Schwangerschaftsabbruch, „Abtreibung“

Sog. „Asoziale“, wie im Bild eine Alkoholikerin, sollten nicht zur Volksgemeinschaft gehören, und waren daher Zwangsmaßnahmen ausgesetzt, in: Volk und Rasse, Ausgabe 11/1936, 334.

Julia Tilentzidis und Markus Raasch

Die nationalsozialistische Sexualpolitik war ein wichtiges Instrument zum Erhalt der Volksgemeinschaft und setzte dementsprechend einen double standard. Auf der einen Seite forcierte das NS-Regime den Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche, wovon z. B. die Errichtung einer Reichszentrale der Polizei „zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung“ im Jahre 1936 zeugt. Schwangerschaftsabbrüche verfolgten die Behörden im Gegensatz zur Weimarer Republik wieder sehr streng und nachdem die Gesetzgebung lange Zeit keine wesentlichen Veränderungen erfahren hatte, bestimmte die „Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft“ aus dem Jahr 1943 sogar, dass „Abtreibung“ mit dem Tod bestraft werden konnte. Nichts sollte anscheinend den Leitsatz eines einschlägigen nationalsozialistischen Mutterbuches konterkarieren: „Die natürliche Vollfrau, die ihren Mann liebt, wünscht im Innersten ihres Seins als Ausdruck ihrer Liebe die Empfängnis.“ Auf der anderen Seite aber begrüßte und förderte der NS-Staat Schwangerschaftsabbrüche von Personengruppen, die nicht zur Volksgemeinschaft gehören durften und angeblich keine „erbgesunden“ und „wertvollen“ Kinder auf die Welt bringen konnten. Dies betraf Frauen mit vermeintlicher oder realer Behinderung, „Asoziale“, Prostituierte, osteuropäische Zwangsarbeiterinnen, Sintizas und Romnija, Jüdinnen und politisch missliebige Frauen. Teilweise waren sie Zwangsabtreibungen ausgesetzt. In Neustadt und Umgebung gab es einige „Volksgenossinnen“, die trotz der rigiden gesetzlichen Vorgaben unter schwierigsten, mitunter lebensgefährlichen Umständen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen ließen. Im Juni 1939 wurde z. B. eine Hebamme, Mutter zweier Kinder und seit 1934 bei der NS-Frauenschaft, zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie bei einer Ehefrau mit Hilfe eines Trachialkatheters einen Schwangerschaftsabbruch durchgeführt hatte. Bisweilen wurde sogar eine dreifache Mutter, Hausfrau und NS-Frauenschaftlerin wegen „Abtreibung“ verurteilt, obwohl unklar blieb, ob überhaupt eine Schwangerschaft vorlag.

Quellen

August Mayer, Deutsche Mutter und deutscher Aufstieg, 1938, zit. nach Irmgard Weyrather, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die „deutsche Mutter“ im Nationalsozialismus. Frankfurt a. M. 1993, 17.

Landesarchiv Speyer (LASp) J28 18325 (Strafverfahren gegen A. M. wegen Abtreibung).

Urteil, 29.06.1939, LASp J28 18325.

Literatur

Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Opladen 1986. Die Monographie liefert einen guten Überblick über die NS-Frauenpolitik und geht besonders auf das Doppelziel von Geburtenförderung und -verhinderung ein.

Markus Raasch, Die Mehrheit der Volksgemeinschaft. Der NS-Staat und die Frauen, die Frauen und der NS-Staat, in: Ders. (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Der Aufsatz betrachtet am Beispiel Neustadts die Prägewirkungen nationalsozialistischer Sexualpolitik und die „agency“, die Frauen vor diesem Hintergrund entwickelten.

Silke Schneider, Verbotener Umgang. Ausländer und Deutsche im Nationalsozialismus. Baden‐Baden 2010. Das kulturwissenschaftlich ausgerichtete Buch leuchtet vor allem anhand der Zwangsarbeiterschaft den Einfluss der „rassenpolitischen“ Ziele auf den Bereich Liebe und Sexualität aus.

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