von Markus Raasch
Die Erzählung der Leid- und Aufbaugemeinschaft, die große Drangsale in Krieg und Nachkriegszeit überstanden und einen erfolgreichen Neubeginn bewerkstelligt hatte, prägte jahrzehntelang den Umgang mit der NS-Vergangenheit. In diesem Sinne wurden Straßen nach verlorenen Ostgebieten umbenannt und Gedenksteine zur Erinnerung an alliierte Bombardierungen eingeweiht. Im Wesentlichen schwiegen die ehemaligen „Volkgenossinnen“ und „Volksgenossen“, die Nachwachsenden glaubten ihre Opfererzählung und trauten sich nicht, näher nachzufragen. Substantielle Bemühungen, sich der NS-Vergangenheit zu stellen, gab es erst im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts, als die Kriegsgeneration wegen ihres Alters nicht mehr alle Diskussionsräume vereinnahmen konnte, sich die örtliche Demografie durch Zuzüge wesentlich verändert hatte, gesellschaftliche Werthaltungen nach „68“ einen Wandel erfahren hatten und die mediale Vermittlung der NS-Vergangenheit nach Ausstrahlung der TV-Serie „Holocaust“ im Jahre 1979 stärker auf die deutschen Verbrechen, insbesondere die Shoah, abhob. So waren es vor allem jüngere Leute, Auswärtige oder oft Zugezogene, die ein besonderes Engagement entwickelten und – gegen teilweise erheblichen Widerstand – erste Türen öffneten. Eine gewisse Katalysatorfunktion besaß der 9. November 1988, der 50. Jahrestag der Reichspogromnacht. Denn an diesem Tag wurde zum einen ein Gedenkstein zur Erinnerung an die Synagoge in der Ludwigstraße 20 eingeweiht, zum anderen öffnete die vielbeachtete Ausstellung des Stadtarchivs mit dem Titel „Vor 50 Jahren – Neustadt unter dem Nationalsozialismus“. Fortan erwuchs in der Bevölkerung ein Engagement, das seit den 1990er Jahren vielfältige Aktivitäten bewirkte. Eine Langzeitfolge war die Gründung eines Fördervereins für NS-Opfer, der seit 2013 am Ort des frühen Konzentrationslagers die Gedenkstätte für NS-Opfer in Neustadt betreibt. Trotz aller Aufbrüche bleiben aber Reserven und bis heute wird in Neustadt auch immer wieder über die NS-Zeit gestritten. Dies zeigen die lokalen Debatten über die Entstehung der „Deutschen Weinstraße“, die Bezeichnung „(frühes) Konzentrationslager“ Neustadt oder das Grabmal von Josef Bürckel.
Quellen
Festbuch zum 1200-jährigen Jubiläum von Lachen Speyerdorf 774–1974. Lachen-Speyerdorf 1975. Einige Textstellen lassen das Bemühen um Relativierung der NS-Zeit deutlich zu Tage treten, weil sie beflissen deren „positive“ und „negative“ Seiten trennen.
Paul Habermehl, Hambach. Führer durch die Ortsgeschichte. Speyer 1977. Typisches Beispiel für die Weitertradierung der deutschen Leiderzählung, wenn etwa vom „Würgegriff des Nationalsozialismus“ die Rede ist.
Klaus-Peter Westrich, Neustadt an der Weinstrasse. Beiträge zur Geschichte einer pfälzischen Stadt. Neustadt a. d. W. 1975. Dieser Band stellt die große Stadthistorie Neustadts dar, widmet der NS-Zeit aber nur einige wenige Zeilen.
Literatur
Eberhard Dittus, „Vor 50 Jahren – Neustadt unter dem Nationalsozialismus“. Eine Ausstellung des Stadtarchivs als „Meilenstein“ in der Aufarbeitung der Neustadter NS-Geschichte, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Mit Hilfe eines kleinen Bestandes aus dem Stadtarchiv Neustadt werden die erinnerungskulturellen Um- und Aufbrüche der 1980er Jahre vor Augen geführt.