von Markus Raasch
Das Bemühen um kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit war nach 1945 durchaus erkennbar. Davon zeugt die Rigorosität, mit der die Entnazifizierungsverfahren begannen, dies zeigt sich in einschlägigen Maßnahmen der Neustadter Stadtverwaltung. So entzog diese 1947 u. a. Adolf Hitler und Josef Bürckel die Ehrenbürgerrechte, während sie im Juli 1948 den Beschluss fasste, das Gelände von Synagoge und Gemeindehaus in der Ludwigstraße sowie des Altersheims in der Karolinenstraße 119 an die jüdische Gemeinde zurückzugeben. Es gab auch Stimmen unter den politischen Verantwortlichen, die ausdrücklich die in deutschem Namen begangenen Verbrechen anklagten. Mit der Zeit wurden diese aber immer leiser. Denn: Die Volksgemeinschaft war keineswegs tot, angesichts der Not des Nachkriegsalltags erfand sie sich einfach neu: als „Leidens- und Aufbaugemeinschaft“. Die entsprechende Erzählung war ebenso einsichtig wie erfolgreich: Es gab „die Nationalsozialisten“ und die „Deutschen“! „Die Nationalsozialisten“, d. h. die Führungsriege um Hitler sowie SS und SA hatten furchtbare Verbrechen begangen und einen Krieg vom Zaun gebrochen, der dem deutschen Volk größtmögliches Leid eingebracht hat! Das deutsche Volk war sowohl „verführt“ wie „geopfert“ worden und muss nun nach vorne (und weg von „den Nationalsozialisten“) schauen und sein Land wiederaufbauen! Entsprechend wurde die Abwehrhaltung gegenüber der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit immer stärker. So hatten die Spruchkammern in zunehmendem Maße Schwierigkeiten, qualifizierte und politisch unbelastete Personen für die Mitarbeit zu finden, ihre Urteile fielen seit 1946 überaus nachsichtig aus. Nur vier Personen (0,25 Prozent) wurden in Neustadt und Umgebung als „Belastete“ eingestuft, 71 (4,4 Prozent) als „Minderbelastete“, die Kategorie „Hauptbelasteter“ erhielt keine einzige Zuordnung. In der Folge ergaben sich große personelle Kontinuitäten in öffentlicher Verwaltung, Justiz, Privatwirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen. Spätestens Anfang der 1950er Jahre kehrten die meisten Betroffenen selbst in leitende Stellungen wieder zurück. Bezeichnend erscheinen auch die milden Urteile, die das Landgericht Frankenthal von 1949 bis 1957 gegen die Beteiligten der Reichspogromnacht in Neustadt verhängte. Die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen gelang gerade deshalb relativ gut, weil sie gleichsam als mustergültige Verkörperung der Leid- und Aufbauerzählung erschienen und dabei dem Missbrauch durch den „Führer“ und der Bestrafung durch den Krieg noch glaubhaft das von den Alliierten verursachte Unglück hinzufügen konnten.
Literatur
Franz Maier, Aufräumarbeiten an der Volksgemeinschaft. Die Entnazifizierung, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Aus den Spruchkammerakten erarbeiteter Aufsatz, der generelle Entwicklungen ebenso deutlich macht wie er markante Einzelschicksale veranschaulicht.
Gabriele Stüber, Das Erbe der Volksgemeinschaft im Zeichen von Nachkriegsnot und Wiederaufbau, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Mit Hilfe von Stadtratsprotokollen, Personalakten, der Zeitungsüberlieferung sowie Zeitzeugenberichten breit schauender Aufsatz, der die erinnerungskulturellen Weichenstellungen der frühen Nachkriegszeit schön herausarbeitet.