„Machtergreifung“

30. Januar 1933. Die NSDAP feiert die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler auf dem Neustadter Marktplatz. Foto: Stadtarchiv Neustadt, Fotosammlung Gerhard Berzel.

von Markus Raasch

Es hat keine „Machtergreifung“ der NSDAP gegeben. Vielmehr übertrug ihr der Reichspräsident am 30. Januar 1933 verfassungsgemäß die Regierungsverantwortung in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt war die NSDAP in Neustadt längst und mit deutlichem Abstand die stärkste Partei. Der Aufstieg des Nationalsozialismus in der Pfalz war in keiner Weise zwangsläufig, verband sich aber stark mit fünf Punkten: 1. Die Bevölkerung trauerte dem untergegangenen Kaiserreich nach, weil es für sie eine Zeit außergewöhnlichen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwungs darstellte. 2. Die französische Besatzung in den 1920er Jahren beförderte die Demokratieverdrossenheit nachdrücklich. 3. Die Weltwirtschaftskrise traf die Region besonders schwer und entgrenzte das allgemeine Gefühl von Unsicherheit und Drangsal. 4. Die steigende Gewalt im öffentlichen Raum förderte die Sehnsucht nach Sicherheit und Ordnung. 5. Die NSDAP trat mit ihrem Volksgemeinschaftskonzept, ihrem modern-jugendlichen Habitus und ihrer regionalspezifischen Symbolpolitik (Nahrungsmittelspenden, gezielte Auswahl von Liedern, Rednern oder Alkoholika bei Parteiveranstaltungen, Bewachung von Feldern und Gärten zur Verhinderung von Diebstählen etc.) in geschickter Weise als Verheißungspartei auf. Nach 1933 war die Festigung der NS-Herrschaft untrennbar mit Repression und Verfolgung verbunden. So leitete die Machtübernahme der NSDAP in Bayern durch Absetzung der demokratisch gewählten Regierung am 9. März 1933 auch in Neustadt den Machtwechsel ein: Am 10. März ließ die Partei den langjährigen Bürgermeister Richard Forthuber verhaften. Prinzipiell sorgten die neuen Machthaber fortan dafür, dass gesellschaftliche Entscheidungsträger – ob bei der Stadtverwaltung, in Kommunalparlamenten, bei der Polizei, in der Justiz, Wirtschaftsverbänden, Zeitungsredaktionen, Presbyterien, Sportvorständen oder dem Verkehrsverein – „gleichgeschaltet“, d. h. mit NSDAP-Angehörigen oder -sympathisanten besetzt wurden. Gewaltsam zerschlugen sie die organisierte Arbeiterbewegung und ließen einen beträchtlichen Teil der örtlichen Funktionäre in „Schutzhaft“ nehmen. Zusehends rigider wurde die katholische Kirche attackiert. Ihre Macht festigte das NS-Regime aber auch mit wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen (Arbeitsbeschaffung, Einführung von Kindergeld, Familienhilfen etc.) oder der Popularisierung von sportlichen, kulturellen und sonstigen Freizeitangeboten, in Neustadt speziell des Pfälzischen Weinlesefestes. Kennzeichen der NS-Herrschaft war auch ihre Flexibilität. Solange der „Führer“ unangetastet blieb, solange die Aussonderung des „Gemeinschaftsfremden“ voranschritt, konnte die Obrigkeit selbst von ihrer zügigen Gleichschaltungspolitik Abstand nehmen, was etwa das Beispiel der Neustadter Schulen und namentlich die Besetzung der Rektorenstellen deutlich macht. Ohne die breite Unterstützung der Bevölkerung, ohne ihr Wegsehen, ihre Passivität, ihre stille Zustimmung und ihre aktive Kollaboration hätte sich das NS-Regime nicht konsolidieren können.

Literatur

Gerhard Nestler u. a. (Hrsg.), Vom Scheitern der Demokratie. Die Pfalz am Ende der Weimarer Republik. Karlsruhe 2010. Grundlegend zum Verständnis der besonderen Situation der Pfalz in den letzten Jahren der Weimarer Republik.

Michael Kißener, Die Verheißung der Volksgemeinschaft. Politische Mittel und Ziele der NSDAP Neustadt, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Dieser Aufsatz führt vor Augen, welches Attraktivitätspotential die Neustadter NSDAP entfaltete.

Miriam Breß, Die frühen Verfolgungen. „Schutzhaft“ als Mittel zur Herstellung der Volksgemeinschaft, in: Markus Raasch (Hrsg.), Volksgemeinschaft in der Gauhauptstadt. Neustadt an der Weinstraße und der Nationalsozialismus. Münster 2020. Dieser Aufsatz zeigt auf breiter Quellenbasis die Bedeutung von Verfolgung und Terror für die nationalsozialistische Machtfestigung, aber auch das mannigfaltige „Mittun“ der Neustadterinnen und Neustadter.

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